LaPax. Linda Kieser
Sie darüber hinaus bei eingeschalteten Bildschirmen anderen Tätigkeiten nachgehen.«
»Nun …,« Ma suchte nach den richtigen Worten, doch Seven war schneller.
»Wir hatten in letzter Zeit einige Probleme mit der Stromversorgung und unsere alten Bildschirmakkus machen da nicht immer so gut mit. Tragbare Bildschirme bekommen wir ja nur für die Arbeitszeit und MI771771N sieht ja täglich 4 Stunden im Kinderhaus.«
Tr0ja31 deutete auf das elektrische Licht über dem Küchentisch. »Im Moment scheint die Stromversorgung ja zu funktionieren.«
»Ja«, antwortete Ma mit fester Stimme, die sie viel Kraft kostete. »Wir wollten eben nach oben gehen und die Nachrichten sehen.«
»Dann will ich Sie nicht aufhalten. Bitte, gehen Sie nur zu. Ich sehe mich in der Zwischenzeit etwas im Haus um.«
Der Familie blieb nichts anderes übrig, als sich in den Zimmern zu verteilen und Nachrichten zu sehen, während der fremde Mann ihr Haus durchsuchte. Seven kochte innerlich. Was fiel dem System ein, so mit Leuten umzuspringen? Er bekam kein Wort von dem Programm mit, vor dem er saß. In ihm war nichts als Wut, doch die weißen Knöchel seiner geballten Fäuste waren alles, was ein geübter Beobachter davon hätte erkennen können.
Zuerst durchsuchte der Mann jeden Winkel des Erdgeschosses. Es gab für die insgesamt fünf Bewohner angemessene Vorräte an Nährpulver. Ihm fiel aber auf, dass es keine Zusatzprodukte wie Magnesiumcracker oder Vitaminbonbons in den Schränken gab.
»Kein Wunder, dass die Natürlichen alle so unterernährt aussehen und so schwächlich arbeiten. Sie sparen an der falschen Stelle und kaufen sich nicht die empfohlenen Ergänzungsmittel«, dachte der Mann. Auf die Idee, dass das Geld für solche zusätzlichen Dinge gar nicht ausreichte, kam er gar nicht.
Als Nächstes ging er in den Keller. Dort funktionierte das elektrische Licht tatsächlich nicht. »Vielleicht hat der Junge doch die Wahrheit gesagt«, überlegte er gerade, als er im selben Moment mit dem Gesicht in einer Spinnwebe landete. Beinahe hätte er laut aufgeschrien. Wie widerlich war das! Wie konnte man nur so leben, in einem Haus mit Spinnen. Von täglicher Raumdesinfektion hatten die Natürlichen offenbar auch noch nie gehört. Nein, hier unten konnte er nicht bleiben. Dieser Auftrag bei den Natürlichen war die reinste Strafarbeit. Er schüttelte sich und hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Wenn er eine Spinne ins Assistentenquartier mitbrachte, war er seinen Job los. Das konnte er nicht riskieren, wo er es doch endlich zum Assistenten gebracht hatte. Die Gehaltserhöhung hatte ihm ermöglicht, die neue Hologrammfunktion an seinem Schlafzimmerbildschirm anzubringen. Darauf wollte er auf keinen Fall mehr verzichten. Die Spiele waren um Welten besser, vor allem das neue Spiel der HauchZart-Serie. Er konnte es seitdem jeden Tag kaum erwarten, endlich wieder in die Spielwelt abzutauchen. Aber wenn er hier etwas fand, was für die Überwacher interessant war, würde er größere Chancen haben, weiter aufzusteigen. Vielleicht konnte er dann einen weiteren Raum seiner Wohnung mit Hologramm-Schirmen ausstatten.
»Das wäre herrlich!«, schwärmte er innerlich, ging schnell wieder nach oben und zupfte sich vor dem Spiegel im Flur mit spitzen Fingern angewidert die Spinnweben aus dem Haar.
»Draußen muss ich auch noch nachsehen«, sagte er halblaut zu sich selbst und lief einmal um das Haus. Außer einer kleinen Sandgrube war dort nichts Auffälliges. Vielleicht konnten sie den Sand in URBS14 brauchen. Er wusste, dass in dieser Stadt immer Sand angeliefert wurde, da er dort vor längerer Zeit einmal in einem Lager gearbeitet hatte. Wozu er gebraucht wurde, wusste er allerdings nicht. Er tippte dennoch auf einige Symbole auf seinem portablen Bildschirm am Handgelenk, der beim Tippen immer etwas verrutschte.
»Wann können die Medis endlich die Bildschirme bei Assistenten serienmäßig einpflanzen?«, regte er sich auf. Aber die Medis waren ja immer noch mit den vielen Implantaten beschäftigt. Bald müsste die Bevölkerung doch endlich vollständig damit ausgestattet sein. Der Mann ging wieder durch die Eingangstür hinein. Im Haus hörte man nichts außer den Bildschirmen von oben. Das System brachte wieder die Nachricht von der Gesetzesänderung bezüglich der Häuser der Natürlichen.
»Sehr gut«, dachte Tr0ja31. »Sie können gar nicht oft genug hören, wie gefährlich sie leben. Und dann auch noch Spinnen! Dieses Gesetz ist wirklich mehr als überfällig.«
Zuletzt ging der Mann noch durch die Zimmer im Erdgeschoss und überprüfte die Anschlüsse, während die Zimmerbewohner offenbar versuchten, ihn zu ignorieren. Er spürte, dass sie Angst vor ihm hatten, und das gefiel ihm. Es berauschte ihn fast so sehr wie seine neue Hologrammfunktion und er fragte sich, ob er die dazu nötigen Hormone oder Enzyme oder was immer es war nicht auch auf sein Implantat speichern lassen konnte. Bei seiner nächsten Untersuchung musste er dran denken, den Medi zu fragen, was das kosten würde.
Nach etwa einer Stunde, in der er nicht wirklich etwas finden konnte, was ihn weitergebracht hätte, rief er die Bewohner zusammen. Er hatte noch einen zweiten Auftrag neben der Durchsuchung.
»Alles in Ordnung«, sagte er, als sich alle im Flur versammelt hatten. »Dann werde ich mich wohl wieder auf den Weg machen. Da wäre nur noch eine Sache.«
»Oh, natürlich, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kommt, wird meine Tochter …«, begann Ma. Der Mann verzog das Gesicht bei dem Wort »Tochter«. »Ich meine, RA834500Y wird selbstverständlich auch noch ihre Bildschirmzeit erfüllen. Ich werde darauf achten«, sagte Ma.
»Davon gehe ich aus«, erwiderte Tr0ja31 kühl. »Ich meinte etwas anderes.«
»Ja?«, schluckte Ma verunsichert.
»Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass das Kostümfest verpflichtend besucht werden muss und dass allen Kindern und Jugendlichen, die dies wünschen, eine angemessene Kostümierung unter Zuhilfenahme der Fähigkeiten unserer Top-Mediziner ermöglicht werden muss. Auf Wiedersehen.«
Seven und Ma blieb der Mund offen stehen, während der Assistent das Haus verließ. Mini versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen und seine Freude über das Gehörte zu verbergen und Großmutter dachte leise:
»Das geht ja in der Überwachungszentrale schneller als gedacht.« Laut sagte sie: »Na, dann werden wir uns mal die Kostümbeschreibungen auf unseren Bildschirmen etwas genauer anschauen!«
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Seven kannte niemanden, der soviel wusste wie seine Großmutter. Sie hatte ihm so viel mehr beigebracht, als er im Kinderhaus je erfahren hatte. Heute Abend hatte sie sich allerdings sehr merkwürdig verhalten. Als Ray endlich von der Arbeit heimgekommen war, hatte sie mit Mini ein Freudentänzchen angefangen, weil ihnen nun niemand mehr die Face-Costumes verbieten konnte. Und Großmutter hatte die beiden gar nicht ermahnt.
»Warum hat Großmutter nichts dazu gesagt, dass Ray und Mini plötzlich verrückt geworden sind? Sie nimmt doch sonst nicht jede neue Teufelei des Systems einfach so hin«, fragte er sich. »Sich operieren zu lassen für ein Kostümfest! Assistenten hin oder her! Die sind ja von allen guten Geistern verlassen.« Und besorgt dachte er: »Oma wird alt. Was machen wir nur, wenn sie mal nicht mehr da ist?«
Seven hatte so viele wundervolle Erinnerungen an seine Großmutter. Wie später auch seine Geschwister hatte er bis zum Alter von 3 Jahren den ganzen Tag bei der Großmutter verbringen dürfen. Er hatte eine diffuse Erinnerung von Glück an jene Zeit. Als Ray geboren wurde, hatte er immer unbeholfen bei den täglichen Arbeiten geholfen. Das hatte Großmutter ihm erzählt, doch daran erinnerte er sich nicht so gut, nur daran, dass seine Schwester wirklich winzig gewesen war und schrecklich viel geschrieen hatte. Später hatte er dann tagsüber ins Kinderhaus gehen müssen. Die verschiedenen Gruppen verschwammen in seinem Gedächtnis zu einem einzigen großen Bildschirm. Was hatten sie dort eigentlich außer Bildschirmtraining sonst gemacht? Viel besser wusste er dagegen noch, wie Großmutter ihn abends nach dem Kinderhaus Lesen und Schreiben gelehrt hatte. In der Sandgrube hinter dem Haus hatte sie Buchstaben mit ihm geübt. Schon damals war das Wasser knapp und die Papierherstellung wurde daher immer teurer. Nur zu besonderen Anlässen oder wenn es wirklich nötig war, erlaubte Großmutter ihm auf Papier zu schreiben. Er war dabei sehr geschickt gewesen, erinnerte er sich. Nach kurzer Zeit hatte er schon