Der Olymp. Achim Lichtenberger
Der erste westliche Reisende der Neuzeit, der 1780 den Versuch einer Besteigung des Olymps unternahm, war Charles Sigisbert Sonnini, den Aufstieg jedoch kurz vor einem der Gipfel (wir wissen nicht genau, welcher) abbrach. Den von ihm erreichten Gipfel beschreibt er folgendermaßen:
»So lange wir noch Bäume und Stauden hatten, um uns daran zu halten, so lange konnten wir immer aufwärts kommen; allein in einiger Entfernung von dem Gipfel des Berges ist alle Vegetation erstarrt und die Natur bringt durchaus nichts mehr hervor. Dieser Gipfel ist ganz nackend und stellt eine mit Schnee und Eis bedeckte runde Wölbung vor, auf der es unmöglich ist, sich aufrecht zu halten oder gar zu gehen. Man darf sich nicht verwundern, dass die Griechen eine Bergspitze, die nie ein menschlicher Fuß betreten kann, zum Wohnort der Götter gemacht haben.«42 (Übersetzung: Achim Lichtenberger)
Trotz aufklärerischer Perspektive ist nicht zu übersehen, dass Sonninis Bericht von Phantastik durchsetzt ist, und man fragt sich, ob er überhaupt jemals den Gipfel gesehen hat oder er durch literarische Texte inspiriert war.43 Bemerkenswert ist das Motiv, dass der Gipfel nicht von Menschen betreten werden könne – eine Distanzierung, die bereits bei Homer angelegt ist.
Der nächste, der über den Olymp berichtet, ist der Griechenlandreisende William Martin Leake, der 1806 die Küstenebene und das Vorgebirge des Olymps besuchte und eine Beschreibung hinterließ, ohne aber den Olymp selbst bestiegen zu haben.44
Eine ausführliche Beschreibung des Olymps verdanken wir dem schottischen Diplomaten David Urquhart, der 1830 den Olymp besuchte.45 Mit der Hilfe eines Räuberhauptmanns klettert er im Olympgebirge, und Urquhart scheint sogar zu Nebengipfeln gelangt zu sein. Leider ist unklar, welche Gipfel er erreicht hat, da er in seinem Reisebericht Namen für die Höhen überliefert, die nicht mit den späteren Bezeichnungen übereinstimmen.46
Zu ungefähr derselben Zeit findet die erste nachweisbare Höhenmessung seit Xenagoras statt. Das englische Militär nimmt 1831 eine trigonometrische Höhenmessung vor und bestimmt die Höhe des Hauptgipfels mit 2 974 oder 2 973 m.47
Einen anschaulichen Bericht der Besteigung des Olymps im Jahr 1840 liefert uns der Philosoph und Schriftsteller Gustav von Eckenbrecher.48 Von Eckenbrecher ist von Larissa, also von Süden, aus aufgestiegen und beschreibt die Topographie und Vegetation des Olympgebirges. Er scheint entweder den Gipfel Agios Antonios oder den Skolio erreicht zu haben und berichtet:49
»Auf dem Gipfel (…) fand ich einen antiken Fußboden von Fliesen aus rothgebranntem Thon, die etwa 1 ½ Fuß im Quadrat und 2 Zoll Dicke hatten.«50
Leider gibt es keine weiteren Berichte zu diesem Befund, und es muss unklar bleiben, was von Eckenbrecher gesehen hat und aus welcher Zeit es stammte. Sollte von Eckenbrecher Funde auf dem Agios Antonios beschreiben, dann könnte er der Entdecker des dortigen hellenistischen Heiligtums sein.51
Ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Erforschung des Olymps und seiner Umgebung ist die Arbeit des französischen Archäologen Leon Heuzey, der Grundlagenarbeiten zur Topographie Nordgriechenlands geschrieben hat. Sein auf Französisch verfasstes Buch »Der Berg Olymp und Akarnanien« von 1860 geht auf Reisen im Jahr 1855 zurück.52 Heuzey selbst scheint auch nur einen Nebengipfel des Olymps bestiegen zu haben, und seine Beschreibungen der konkreten Topographie des Berges sind streckenweise unklar. Sein Verdienst besteht darin, die literarischen Quellen ausgewertet, eine topographische Analyse des Umlandes gemacht und Ortslagen, wie das bereits erwähnte Pythion, identifiziert zu haben. Seine Arbeit bleibt bis heute der Ausgangspunkt für jede landeskundliche Beschäftigung mit dem Olymp.
Auch der berühmte Afrikareisende Heinrich Barth war 1862 am Olymp und hat den Nebengipfel Agios Elias bestiegen. Dabei musste er feststellen, dass es in der Nähe höhere Gipfel gab.53
Bis zur Jahrhundertwende fanden verschiedene Vermessungsexpeditionen in der Region statt, insbesondere durch österreichische Unternehmungen.54 Dennoch wagte man sich kaum in das Olympgebiet, das weiterhin fest in der Hand der Klephten war, weshalb eine exakte topographische Vermessung und weitere Erforschung bzw. Besteigung der Gipfel unterblieb. Diese erfolgte erst, als das Olympgebiet nach dem Balkankrieg 1912 an Griechenland fiel und Sicherheit in der Region einkehrte.
Zuvor wurde noch der deutsche Bergsteiger und Reisende Edward Richter 1911 am Olympmassiv von Klephten gekidnappt und kam erst nach mehrmonatiger Gefangenschaft und Zahlung eines hohen Lösegelds wieder frei. Sein Bericht ist ein anschauliches Dokument einer Zeit, in der die Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und Griechenland südlich des Olymps lag, und hier Räuber operierten. So beschreibt er die Situation:
»Obwohl die meisten nach Konstantinopel fahrenden Schiffe am Fuße des Olymps vorüberziehen und obwohl Salonik in der Luftlinie nur etwa achtzig Kilometer entfernt ist, bildet das Olympgebirge doch ein Gebiet, das ›unbekannter als die meisten Gegenden Zentralafrikas‹ ist. Eine sehr geringe Anzahl von ›Europäern‹ (die Orientalen zählen sich selbst nicht zu den Europäern) hat dieses Gebiet betreten. Nur ein Geograph und zwei oder drei Geologen haben je einen Teil des Gebirges beschrieben. Der Grund der Unbekanntheit dürften die Schwierigkeiten sein, welche der Reisende zu überwinden hat: Gasthäuser in unserem Sinne gibt es dort nicht, die Straßen sind sehr schlecht, Wege sind nicht gebahnt, sondern nur ausgetreten, ferner erteilt die türkische Regierung (…) sehr ungern die Erlaubnis zum Betreten der fern von Verkehr liegenden Gebiete. Auch an der Schwierigkeit einer Verständigung mit der Bevölkerung und den Lokalbehörden dürften manche Dinge scheitern. Am meisten verhindert aber die große Unsicherheit den Besuch. Ist doch das Olympgebirge das berüchtigtste Räubernest Europas. Man kann aus diesem Grunde dort auch nur unter dem Schutz einer Bedeckung reisen, die, wenn die Erlaubnis erteilt ist, von den türkischen Behörden bereitwillig von Station zu Station mitgegeben wird.«55
Richter reiste mit einer österreichischen Karte, die jedoch ungenau war, und an deren Korrektur er arbeitete, als er entführt wurde und seine beiden türkischen Begleitsoldaten erschossen wurden. Nach seiner Freilassung aus der Geiselhaft hat sich Richter weiter um die Erforschung des Olymps verdient gemacht.56
Die Erstbesteigung des höchsten Gipfels des Olymps, des Mytikas, erfolgte durch zwei Schweizer Bergsteiger und einen griechischen Führer: Daniel Baud-Bovy, Fred Boissonnas und Christos Kakalos. Sie erreichten den Gipfel am 2. August 1913.57 Ein Jahr später, ohne Kenntnis der Erstbesteigung, erklommen Francis Farquhar und Aristides Phoutrides den dritthöchsten Gipfel Skala und brachten erstmals eine umfangreiche Photodokumentation von ihrem Aufstieg mit.58
Im Jahr 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde schließlich der Schweizer Geograph Marcel Kurz vom griechischen Ackerbauministerium mit einer exakten topographischen Aufnahme des Olympmassivs betraut. Vier Jahre später publizierte er das Werk »Le Mont Olympe« (1923) mitsamt zwei hervorragenden Karten, die bis heute grundlegend sind (
Das Buch von Kurz aus dem Jahr 1923 und die Arbeit von Heuzey aus dem Jahr 1860 sind bis heute die einzigen wissenschaftlichen Monographien zum Olymp.60 Aus archäologischer Sicht sind nur wenige Studien zu dem Berg erfolgt, ein archäologischer Survey des Gebirges hat noch nicht stattgefunden, und bislang wurden nur wenige archäologische Stätten identifiziert.61 Auch ansonsten haben sich die klassischen Altertumswissenschaften kaum mit dem Berg beschäftigt.62 Eine Studie zur bildlichen Darstellung bzw. zu den Raumvorstellungen des Berges fehlt, obschon es Untersuchungen zu Einzelaspekten wie etwa dem Bild der Götterversammlung gibt.63 Auch die Klassische Philologie und die Alte Geschichte ignorieren den Berg weitgehend.64 In den letzten Jahren sind zwar im Zuge des sogenannten spatial turn, der sich übergreifend mit kulturellen Aspekten von »Räumen« befasst, Berge in der Antike verstärkt ins Interesse der Kulturwissenschaften getreten, doch bleibt der Olymp weiterhin faktisch unbeachtet.65