Dan Henrys Flucht. Stig Ericson

Dan Henrys Flucht - Stig Ericson


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      Als ich alle Taschen geleert hatte und die Uniform in den Schrank hängen wollte, stieß ich versehentlich gegen einen Kleiderbügel. Er fiel mit solchem Krach auf den Boden, daß eigentlich das ganze Haus hätte aufwachen müssen, so kam es mir wenigstens vor.

      »Wer ist da?«

      Das war Anna, meine älteste Kusine. Rasch schlüpfte ich in ein paar Hosen. Sie gehörten dem Onkel und waren in der Taille viel zu weit, doch zum Glück hatten sie Träger.

      »Bist du es, Dan?«

      Ich hörte, wie Anna sich im Bett hinsetzte. Sie war ein paar Jahre älter als ich und arbeitete in einem Büro.

      »Ja.«

      »Was machst du hier?«

      Ich spürte ihre Augen durch die Dunkelheit. Sie waren groß und grau und meistens ernst. Ich war froh, daß es dunkel war.

      »Ich ... ich brauche ein paar Kleider.«

      »Aber ... warum redest du so komisch? Was ist denn mit dir los?«

      Jetzt war sie hellwach. Was sollte ich antworten?

      »Dan?«

      Ich mußte irgend etwas sagen. Ich sagte:

      »Ich muß abhauen.«

      Das klang gar nicht so schlecht.

      »Aber ... was ist denn passiert?«

      »Ich habe keine Zeit, es zu erklären. Hab’ es eilig.«

      Sie kam zu mir her.

      »So eilig wirst du es nicht haben, daß du nicht erzählen kannst, was vorgefallen ist. Was hast du angestellt?«

      Sie sprach leise, um die anderen nicht zu wecken, aber dennoch klang ihre Stimme scharf.

      Ich erzählte es ihr.

      »Ich glaube, daß er tot ist«, schloß ich. »Und jetzt sind sie hinter mir her.«

      »Aber du hast ihn doch nicht geschlagen!«

      »Ich war dabei, das genügt ihnen.«

      »Und woher willst du überhaupt wissen, daß er tot ist?«

      »Ich habe ihn gesehen.«

      Sie schwieg. Sie stand so nah, daß ich sie atmen hören konnte und den Geruch von Schlaf und Haaren spürte.

      »Er ist überhaupt nicht tot«, sagte sie dann. »Du übertreibst immer alles. Das hast du dir nur eingebildet. Du und deine Phantasie ...«

      Anna hatte mich immer eingeschüchtert. Sie war älter als ich, und ich fand sie hübsch. Daher gefiel es mir gar nicht, sie so sprechen zu hören. Ich fühlte mich gekränkt.

      »Und trotzdem muß ich fort«, sagte ich. »Du weißt nicht, wie es beim Regiment zugeht. Und übrigens habe ich auch ein Boot hinter dem Holzlager geklaut.« Sie seufzte.

      »Wenn du unbedingt wie ein Landstreicher auf den Straßen herumziehen willst, so werde ich dich nicht hindern. Mitten in der Nacht einfach anzukommen ... Wo willst du überhaupt hin?«

      »Nach Süden.«

      Ich weiß nicht, wie ich darauf kam.

      Anna gähnte und holte eine Tasche aus dem Schrank heraus. Ich stand in Onkels weiten Hosen daneben und fühlte mich wie ein Idiot. Die anderen Kusinen schliefen, aus der Küche kam Tante Elins Schnarchen.

      »Hast du Tante Karin mal kennengelernt?« wollte Anna wissen. Sie zündete eine Kerze an und begann die Tasche für mich zu packen. Ich dachte an Tante Karin.

      Sie war die jüngste Schwester meiner Mutter. Obwohl ich erst vier Jahre alt gewesen war, als sie aus Stockholm wegzog, konnte ich mich an sie erinnern. Ich wußte noch, daß ich sie immer sehr schön gefunden hatte. Sie trug ein blaues Kleid und hatte langes, blondes Haar. Manchmal sang sie mir Lieder vor. Eines handelte von einer Krähe.

      »Warum willst du das wissen?« sagte ich.

      »Weil ich glaube, daß du sie aufsuchen kannst«, versetzte Anna und schloß die Tasche. »Sie wohnt in Malmköping. Das ist irgendein kleines Dorf hinter Södertälje. Ziemlich weit dahinter, glaube ich.«

      »Warum ist sie dorthin gezogen?«

      »Sie heiratete jemand, der von dort stammte; ich glaube, daß er irgend etwas mit der Seefahrt zu tun hatte. Die älteren Tanten waren gar nicht damit einverstanden. Tante Karin hatte ja eine ordentliche Ausbildung und eine gute Anstellung —. Darum haben sie einander seither nie mehr geschrieben.«

      »Wie heißt sie denn jetzt?«

      »Ich weiß nicht. Aber Malmköping ist sicher nicht so groß, daß du sie dort übersehen könntest. Das heißt, wenn sie überhaupt noch da wohnt, natürlich.«

      Wir gingen in die Küche hinaus, wo Anna noch ein Paket mit Proviant für mich zurechtmachte. Plötzlich sagte sie:

      »Dan, mußt du wirklich fort? Verstehst du denn nicht, daß du deine ganze Zukunft ruinierst? Eigentlich müßte ich Mutter wecken. Und was wird ... dein Vater sagen? Denn er wird es natürlich erfahren, auch wenn er ...«

      Mitten im Satz unterbrach sie sich. Sie sah sehr ernst aus. Die Kerze stand auf dem Herd und flackerte und zischte. Hinter dem Vorhang bewegte sich Tante Elin im Bett. Anna hatte zerzaustes Haar und sah sehr süß aus.

      »Du tust ja doch, was du willst. Paß gut auf dich auf, Dan.«

      Dann umarmte sie mich.

      Ich weiß noch immer, wie weich sie sich anfühlte.

      Die Stadt war neblig und still. Die zivilen Kleider rochen ungewohnt. Nach der Uniform fühlten sie sich leicht und dünn an, und obwohl ich schnell ging, fror ich sehr.

      Auf meinem Weg durch die Stadt sah ich keinen einzigen Polizisten, damals gab es noch nicht allzuviele davon, aber aus den Gassen und Winkeln der Altstadt drang Gesang und betrunkenes Grölen.

      Als ich an den Schleusen vorbeikam, blieb ich kurz stehen und lehnte mich über das Eisengeländer. Der Nebel lag wie eine dicke Wolldecke auf dem Wasser. Ich konnte die Masten und Segel der Fischerboote erahnen, und weit hinten tauchte langsam ein schwacher Streifen Dämmerlicht über den Inseln auf.

      Dann kam ich in die Söderberge, hier waren andere, fremde Gerüche; es roch nach Erde und feuchtem Grün.

      Das holprige Straßenpflaster ging in eine sandige Landstraße über, die Häuser wurden kleiner und die Bretterzäune länger.

      Vor allem erinnere ich mich daran, wie dunkel es war. Die Dunkelheit war so dicht, daß ich immer fürchtete, von der Landstraße abzukommen und mich zwischen Schuppen und Ställen zu verirren.

      Der Weg führte jetzt einen langen, abschüssigen Hang hinunter, dann kam ich an eine lange Floßbrücke, die leise glucksend auf dem Wasser lag.

      Ich ging über die Brückenplanken, kletterte auf der anderen Seite einen kleinen, lehmigen Hang hinauf. Die Stadt lag hinter mir.

      Während der helle Streifen am Horizont unmerklich breiter wurde, folgte ich der Landstraße — die Tasche in der Hand und den Kopf voller Gedanken. Ich war hundemüde.

      Mit Holz oder Gemüse beladene Bauernkarren kamen mir entgegen. Die Kutscher hingen halbschlafend über den Zügeln. Einige nickten mir freundlich zu.

      Alles war grau und feucht.

      Am Wegrand stand eine Scheune. Ein paar Krähen flogen krächzend über die Felder. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Ich ging hin und öffnete die Tür. Die Scheune war voller Heu.

      In der Tür drehte ich mich um. Wahrscheinlich würde es ein schöner Tag werden. Ich überlegte, wie spät es wohl sein mochte, und dachte kurz an das Regiment. Sicher waren es noch viele Stunden bis zum Wecken.

      Ich kroch ins Heu hinein und schlief augenblicklich ein.

      4


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