Dan Henrys Flucht. Stig Ericson

Dan Henrys Flucht - Stig Ericson


Скачать книгу
Grund bildete ich mir ein, an seinem Mißgeschick schuld zu sein.

      Es dauerte nicht lange, bis es im Regiment durchsikkerte, daß mein Vater im Knast saß. Daß er ein Dieb war. Und dieser lange Leutnant, mein besonderer Quälgeist, gab sich redlich Mühe, damit ich es nur nie vergaß.

      Daß ich die Stadt so leichten Herzens verließ, lag sicher nicht nur daran, daß ich eine lebhafte Phantasie hatte und mir meine Hinrichtung in der Dämmerung oder meine lebenslange Festungshaft ausmalte. Ich hatte viele Gründe.

      Und trotz meiner Angst vor der Polizei glaube ich, daß ich selten so gut geschlafen habe wie in jener Scheune südlich von Stockholm.

      5

      »... Einbrecher!« Wahrscheinlich hatte der Mann schon viele Schimpfwörter geschrien, aber das war das einzige, welches ich noch hörte. Ich setzte mich im Heu auf und sah mich völlig verschlafen um. Er stand in der Tür und sah groß und dunkel und bedrohlich aus.

      Durch die Ritzen in der Bretterwand drangen die Sonnenstrahlen herein. Es war sehr warm. Draußen hörte ich Vogelgezwitscher, und mein Kopf schwirrte voller Fragen.

      »Na ...«

      Er kam auf mich zu. Ich riß die Tasche an mich und versuchte an ihm vorbeizukommen. Er versetzte mir einen harten Tritt, so daß ich kopfüber hinfiel. Rasch stand ich wieder auf und begann zu rennen.

      »Pack dich, du Einbrecher!« schrie er mir nach.

      »Sonst ...«

      Einbrecher ... Einbrecher ... Einbrecher ...

      Das Wort dröhnte mir im Takt zu meinen Schritten durch den Kopf.

      Ich lief lange und fand es herrlich, so zu rennen.

      Durch meine Wut und meinen Schmerz hindurch empfand ich eine gewisse Befriedigung — mein Körper funktionierte, ich war jung und stark.

      Langsam hörten die Gedanken auf zu hämmern. Aber sie verschwanden nicht. Man kann seinen Gedanken nicht davonrennen.

      Von diesem ersten Tag meiner Flucht habe ich noch viele Bilder in Erinnerung.

      Ich saß auf einem Stein in einem dichten Himbeergestrüpp. Die Himbeeren waren klein und schmeckten stark und süß. Der Sonnenschein war voller Fliegengesumm, und es roch nach Erde und warmem Moos.

      Vorsichtig steckte ich die Hand unters Moos und löste einen großen Fladen ab, den ich davonschleuderte.

      Ich kletterte in eine große Kiefer hinauf und saß lange auf einem Ast mit dem Rücken zum Stamm, pfiff vor mich hin, spürte den Geruch von Harz und dachte, wie schön alles jetzt gerade sei. Eine leichte Brise kam auf und erfüllte den Baum mit Leben — mit einem weichen, schaukelnden, sausenden Leben voller Sommer.

      Ich stand neben einem Weidezaun und unterhielt mich mit einer Kuh, die ein feuchtes Maul und einen weißen Stern auf der Stirn hatte. Die Weide dahinter war sumpfig, und in einem Graben leuchteten große, gelbe Blumen.

      Wahrscheinlich begegnete ich auch vielen Menschen, aber ich kann mich nur an einen erinnern. Er kam mir auf dem ausgefahrenen Kiesweg entgegen, und ich erschrak, weil er so groß und bärtig war und einen schwarzen Hut mit breiter Krempe trug.

      Ich versuchte, unbefangen zu wirken, als wir uns einander näherten, aber als er die Hand erhob, wie um mich anzuhalten, erstarrte ich vor Schreck.

      »Jetzt ist es aus mit der Freiheit«, dachte ich. »Jetzt bin ich dran. Jetzt warten Fesseln und Schande auf mich ...«

      »Hast du vor kurzem eine Kuh hier auf dem Weg gesehen?«

      Er trug blaue Arbeitskleidung und roch nach Schnupftabak und Schweiß.

      »Nein.«

      »Verdammtes Vieh. Sie wird doch nicht in den Wald gelaufen sein?«

      Er machte kehrt, und wir gingen auf je einer Seite des Weges weiter — er mit sicheren, etwas schlurfenden Schritten, ich immer noch angespannt.

      »Willst du noch weit?«

      »Nach Malmköping.«

      Das Wort entschlüpfte mir einfach. Ich hätte mir die Zunge abbeißen können. Was war ich doch für ein Idiot! Wenn man jetzt nach mir fahnden würde ...

      »Malmköping, das liegt doch nicht hier in der Gegend, oder?«

      »Es liegt hinter Södertälje.«

      »Oh je, so weit weg. Vor ’nem Jahr ungefähr war ich in Södertälje. Große Stadt, das!«

      Schweigend gingen wir nebeneinander her. Allmählich beruhigte ich mich. Er schien mehr an seinen Södertäljebesuch und an seine entlaufene Kuh zu denken als an mich. Aber ab und zu schielte er zu mir herüber, ein bißchen mißtrauisch, fand ich.

      An einem Waldweg blieb er stehen.

      »Sie wird wohl hier hinaufgelaufen sein, das Miststück«, sagte er. »Viel Glück unterwegs.«

      Sein breiter Rücken verschwand zwischen den Tannen, und ich war wieder allein mit meinen Gedanken.

      Dann sah ich eine Waldlichtung vor mir — eine schöne, sonnenwarme Lichtung mit Heidelbeerbüschen und großen Farnkräutern. Es ging auf den Abend zu, über dem Feld längs des Weges glitzerten tausend Insektenflügel in der untergehenden Sonne.

      Ich kaute an einer Kartoffel und dachte an Anna — weiche, warme Gedanken, die mich stärkten.

      Und diese Stärkung konnte ich gebrauchen.

      Denn wenn ich auch kein Mörder war — schließlich war ich es ja nicht, der den Südschweden verdroschen hatte, und überhaupt war es nicht sicher, daß er tot war — so war ich doch übel dran. Ich hatte ein Boot geklaut, und das war strafbar. Ich war vom Dienst durchgebrannt, und das war auch strafbar. Ein Führungszeugnis hatte ich auch nicht, und kaum Geld.

      Und von Tante Karin in Malmköping wußte ich nichts, außer daß sie ziemlich jung sein mußte und mit jemand verheiratet war, der etwas mit der Seefahrt zu tun hatte. Vielleicht würde sie mich der Polizei ausliefern. Zur Polizeistation schleichen und mich anzeigen, während ich schlief ... Aber ... nein, Anna war doch ganz sicher gewesen, daß sie mir helfen würde.

      »Tante Karin in Malmköping«, sagte ich laut, während ich an meiner Kartoffel kaute. »Tante — — — Karin — — — in — — — Malmköping ...«

      Malmköping klang gut, fand ich. Ich sah eine Kirche vor mir. Eine schöne, weiße Kirche in der Sonne, von friedlichen, kleinen, bunt bemalten Häusern umgeben. Und mitten in Malmköping wohnte Tante Karin. Sie stand in der Tür und wartete auf mich. — Auch an das Musikkorps dachte ich ziemlich viel. Wie war es wohl Gabriel und dem Langen Gustav ergangen? Waren sie auch geflohen? Oder waren sie noch beim Regiment ? Womöglich in Fesseln? Wie Vater, damals ...

      Wie Vater.

      »Du hast ja eine vielversprechende Veranlagung, du Lümmel«, hatte dieser schmalnasige Leutnant einmal gesagt, als wir in der Kaserne nach etwas suchten.

      »Dich darf man nicht aus den Augen lassen!«

      Nein, es gab keine Möglichkeit zur Umkehr, ich mußte weiter. Fliehen!

      Und eigentlich wollte ich das wohl auch. Ich hatte großen Appetit auf das Leben und auf die Welt. Aber die Welt war so groß, so entsetzlich groß.

      Und meine Füße schmerzten sehr.

      Während ich dasaß und philosophierte, sah ich auf der Landstraße eine Gestalt von der Stadt her auf mich zukommen. Es war ein Mann, der mit raschen, leicht federnden Schritten ausschritt und etwas über der Schulter trug.

      Zuerst wollte ich schnell aufbrechen, um allein zu bleiben, doch dann wurde ich neugierig und blieb sitzen. Er sah ganz ungefährlich aus, doch vorsichtshalber warf ich einen Blick über die Schulter, um mir einen Fluchtweg zu sichern. Hinter mir stand der Wald wie eine dunkle, dichte Mauer, da würde es nicht schwerfallen, sich zu verkrümeln.

      Ich


Скачать книгу