Seeland Schneeland. Mirko Bonné
»Newport«, sagte Meeks. »Casnewydd.«
Und Robey sagte: »Lehrerinnentochter – hab es gleich gewusst.« Übrigens sei er ganz Gentleman geblieben, sogar entschuldigt habe er sich bei ihr.
Nein, schuld an seiner Verzweiflung war nur die Times, und die Schuld dieses alten Reue-, Roala-, Royalistenblatts war sogar eine doppelte!
Meeks setzte sich auf die Lehne eines freien Sessels. Er ahnte, was ihn erwartete, und wusste, dass es dauern würde, bis Robey all die Namen von Fliegern, Flugzeugen und irgendwo auf der Welt liegenden Startbahnen und Zielorten in eine irgendwie sinnvolle Ordnung gebracht hatte.
»Ich bin ganz Ohr«, sagte er und spürte dabei das Gewicht, das ihn hinunterzog durch das siebente Stockwerk des Mondes in die Stille tief im Innern des Erdtrabanten.
Anfang 1920 hatte die Times ein Preisgeld von 10000 Pfund für den ersten Direktflug von London nach Kapstadt ausgelobt. Mit ihrer Silver Queen, einem umgebauten Vickers Vimy-Bomber, wie ihn für die Atlantiküberquerung auch Alcock und Whitten Brown verwendet hatten, waren zwei südafrikanische Royal Air Force-Piloten in London gestartet.
In Bristol hatte Meeks auf dem Bahnsteig eine Times kaufen müssen, in der ein Jahr später das ganze Drama des Südafrikaflugs in allen Einzelheiten noch einmal geschildert wurde. Robey las die Zeitung im Zug, und jeder Absatz des langen Artikels über die Flugroute und die zunächst gefeierten und dann als Betrüger hingestellten Flieger ging mit einem weiteren Drink einher.
Laut Times seien van Ryneveld und Brand aufgrund einer Motorenüberhitzung seinerzeit nur bis Wadi Halfa im Nordsudan geflogen und von dort nach Heliopolis zurückgefahren. In Ägypten seien sie umgestiegen in eine andere Vimy – die Silver Queen II – und weitergeflogen nach Südrhodesien, wo aber schon beim Start auch diese Maschine schwer beschädigt wurde.
»Erinnere mich«, sagte Meeks vergeblich.
Also stiegen van Ryneveld und Brand wieder um, diesmal in eine De Havilland, eine Airco, wie Robey sie schon mehrmals getestet hatte, einen »fipsigen Zappelapparat« nannte er die Maschine, und Meeks erinnerte sich wirklich, wenn auch eher an das Mäandern des Avon in der Dämmerung vor den Abteilfenstern, wo Stonehenge lag und das abendliche Somerset.
Mit der Airco hatten die beiden Südafrikaner schließlich zwar Kapstadt erreicht, wurden bejubelt und zu Rittern geschlagen, wurden später aber zu Recht, wie die Zeitung selbst es lang und breit darlegte, von der Preisjury der Times aufgrund unerlaubter Flugzeugwechsel disqualifiziert.
»Disqualifiziert!«, grölte Robey unerwartet heftig und sprang aus dem Sessel. »Ist das zu fassen? Diese monarchistischen Idioten! Ich werde das Zehnfache – Fünfzigfache …« Er hielt inne, fuhr herum und beugte sich zu Meeks hinunter. »Glotzt du mich an? Du hältst mich für übergeschnappt, ich seh es an deiner …« – und er gab ihm einen Klaps auf die Stirn.
Er kannte auch das.
»Nein«, sagte er ruhig. »Sie sind auf der Suche, Diver, und ich glaube fest, dass Sie finden werden, wonach Sie suchen.«
Das beschwichtigte ihn fürs Erste. Robey richtete sich auf und ging auf Abstand. Er furzte, laut und lange, und dann lachte er wie der Teufel.
»Einen Scheißdreck gebe ich auf die Meinung der Leute, die glauben, es ist unmöglich, über den Mistatlantik zu fliegen«, sagte er, ein langer Satz, den er erstaunlicherweise fehlerfrei zuwege brachte. »Ich achs…, ich assep…, ich ak-zep-tiere das nicht!«
»Irgendwann werden Ihre Passagierflugzeuge über den Ozean fliegen, und es wird das Natürlichste von der Welt sein«, sagte Meeks, ohne dass es ihm dabei um Lüge oder Wahrheit, um Euphorie oder Trost ging. Er wollte nur noch beschwichtigen.
»Irgendwann!« Robey höhnte. »Komm mir nicht mit deiner Untergebenenweisheit, du Mann im Mond.«
Was er ihm damit sagen wollte, blieb schleierhaft. »Sie müssen nur Geduld haben«, erwiderte er. »Und vorsichtig sein. Das Glas, Diver, bitte stellen Sie es hin.«
Robey sah auf seine Hand, als wäre ihm dort ein gläsernes Körperteil gewachsen. Das Staunen darüber und das Bewusstsein der unzähligen Möglichkeiten, die dieser Moment für ihn bereithielt, ließen ihn schwanken, er blieb schief stehen, und ebenso schief lächelte er, ehe er Meeks das leere Glas zuwarf.
Der fing es auf – es würde keine Scherben an diesem Abend geben. Er ist so reich, dachte er im selben Moment, reicher als reich! Mit seinem Vermögen könnte er die Times, das walisische Eisenbahnnetz oder halb Kapstadt kaufen. Wieso er sich volllaufen ließ, wenn zwei Südafrikaner ihr Glück herausgefordert und Pech gehabt hatten, noch dazu vor einem ganzen Jahr, war einfach unbegreiflich.
Es gelang Robey nicht mehr, sich hinzusetzen. Das Schwanken hatte die Kontrolle über seine Orientierung übernommen, und so fügte er sich notgedrungen und folgte Schwerkraft und Fliehkraft, die ihn zur Seite kippen ließen. Wie von einem unsichtbaren Gewicht wurde er ins Schlafzimmer gezogen und verschwand mit einem Mal im Türrahmen, verschluckt von Dunkel und Stille.
Eine Weile wartete Meeks ab. Er lauschte. Er studierte das Teppichmuster, überzeugt, es würde ihm in die wirren Träume der vor ihm liegenden, viel zu kurzen Nacht folgen. Er stand auf. Aufbegehren und Zuversicht hielten sich in seinem Gemüt die Waage, hieraus zog er die Gleichmut, die ihn auszeichnete und ein Leben an der Seite eines bis in die Haarspitzen rauschhaften Menschen bestehen ließ. Langsam tastete er sich an Möbeln und Wänden entlang hinüber in das Schlafzimmer, ohne dass er hätte sagen können, wie viel Zeit vergangen war.
Robey lag quer auf dem Bett, ein Bein angewinkelt auf der Matratze, das andere über den Bettrand ins Zimmer ragend. Über weiche Teppiche stapfte Meeks um den Eingeschlafenen herum, griff ihm unter die Achseln und zog den schweren Körper mit einem kurzen, so sanften wie kräftigen Ruck ganz auf das von einem hellen Himmel überwölbte Bett. Er deckte Diver zu, schloss das Fenster und löschte bis auf eine Stehlampe im Salon überall das Licht.
Es war kurz vor drei Uhr morgens, als er aus dem Lift in die Lobby trat. Neben dem Nachtportier stand ein Page und las in der Times. Meeks sah die Schlagzeilen, während er über einen Teppich mit Löwenkopfmuster zu dem Empfangstresen ging.
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Der Portier war ein freundlicher älterer Herr, den nichts zu erschüttern vermochte, weder irische Freiheitskämpfer noch preußische Chauvinisten, und auch ein New Yorker Multimillionär, der mitten in der Nacht Dinge aus dem achten Stock warf, entlockte ihm keinen Ausruf des Erstaunens. Er zog nicht mal eine Braue hoch.
»Dinge, Sir?«
Um was es sich handelte, konnte Meeks ihm nicht sagen, Verschwiegenheit war zwar eine seiner obersten Prämissen, in diesem Fall aber wusste er einfach nicht, was Mr. Robey aus dem Fenster geschmissen hatte.
»Verstehe, Sir.«
»Die Gespräche mit den Deutschen haben begonnen, wie ich sehe«, sagte Meeks und nickte in Richtung der Zeitung, die der Page in Händen hielt. Es war derselbe junge Mann, der Robey das Telegramm gebracht hatte.
»Gestern, Sir.« Der Portier legte eine Times auf den Tresen und drehte die Zeitung um, damit Meeks besser lesen konnte. »Möchten Sie ein Exemplar mitnehmen?«
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»Nein, danke.«
»Wenn Sie mir folgen wollen.«
Schweigend führte ihn der Nachtportier des Mondes durch einen schmalen Korridor. An dessen Ende schloss er eine Tür auf und reichte Meeks, als der Innenhof vor ihnen lag, einen Regenschirm, den er von irgendwoher aus der zugigen Luft gezaubert haben musste.
»Der Hof gehört Ihnen«, sagte er. »Viel Glück, Sir.«
Dann war er draußen. Er hörte Nebelhörner