Seeland Schneeland. Mirko Bonné

Seeland Schneeland - Mirko Bonné


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/ Casnewydd. Der Automobilunfall mit anschließender Fahrerflucht, in dessen Folge letzten Dienstag der erst achtjährige Rychard G. noch am Unfallort seinen Verletzungen erlag, scheint aufgeklärt. Auf der Hauptpolizeiwache Newport meldete sich der Fahrer des sichergestellten Kraftwagens und gab an, auf der Landstraße nach Mynyddislwyn bei Starkregen von der Fahrbahn abgekommen zu sein. In der Annahme, ein Reh überrollt zu haben, sei er weitergefahren, habe das in Mitleidenschaft gezogene Gefährt schließlich jedoch stehen lassen. Bei dem Fahrer, der unter Schock steht, handelt es sich um den 21-jährigen Rhys F., Sohn eines angesehenen Anwalts aus Merthyr Tydfil. Gegen F. wurde Anklage wegen fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr mit anschließender Fahrerflucht erhoben. Gegen eine Kaution in ungenannter Höhe wurde der Beklagte auf freien Fuß gesetzt.

      Newport / Casnewydd. Ennid Anjelica Muldoon (24) hat nach eigenem Bekunden ihre Heimatstadt verlassen, um in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Existenz zu gründen. Miss Muldoon, Tochter des vor zwei Jahren verstorbenen Schiffsausrüsters Quiltyn Muldoon, 1 Skinner Street, reist derzeit über Portsmouth nach New York und weiter mit unbekanntem Ziel. Bekannt in der Gesellschaft ist Miss Muldoon als Verlobte des im letzten Kriegsjahr in Frankreich gefallenen Fliegers Edward Mannock, der für weit über 50 Abschüsse deutscher Flugzeuge posthum mit dem Viktoria-Kreuz ausgezeichnet wurde. Die besten Wünsche der Redaktion begleiten Miss Muldoon!

      Merthyr Tydfil. Flugzeuge und Amerika vereinigt auch Mr. Diver Robey (39) in seiner Person. Der Hotel-Erbe und Multimillionär aus dem Staat New York, der sich die Einrichtung einer dauerhaften Passagierfluglinie zwischen Europa und den USA auf die Fahnen geschrieben hat, besuchte kürzlich Merthyr Tydfil, wo er die neueste Dreipropellermaschine der Gebrüder Harper-Fabrik in Augenschein nahm. Unsere Frage, ob während des Probefluges über Wales der Kauf einer Harper Airrant getätigt wurde, wollte Mr. Robeys Assistent Bryn Meeks, gebürtiger Waliser aus Aberystwyth, nicht kommentieren.

      Trelech-a’r-Bettws. Auch walisische Riesenschnauzer hält offenbar nichts in London oder Oxford. Im vergangenen Herbst verloren gegangen auf einer Reise seiner Besitzer in die englische Hauptstadt, ist Hund »Powys« aus eigener Kraft zurückgekehrt nach Trelech-a’r-Bettws. Der vier Jahre alte pechschwarze Rüde war offenbar fünf Monate lang unterwegs, ist geschwächt, aber bei guter Gesundheit, berichtet die glückliche Mrs. Olivia H. Einzige Spur der Odyssee von Powys sei ein fremdes Lederhalsband mit der Aufschrift DUSTY – OXFORD.

      Miss Ings brachte den Tee und die Pies, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Der Tag war lang genug für sie gewesen. Dankbar für die Unterbrechung, nickte Mrs. Blackboro ihrer alten Hausdame zu und entließ sie mit einem Gutenachtgruß in den Feierabend. Miss Ings ging, grußlos und geräuschlos, wie es seit 1897 ihre Art war, und niemand außer Mr. Blackboro störte sich daran. Zurück an seinem Platz, Flasche und Glas vor sich, schüttelte er über seiner Dessertschale wie üblich den Kopf.

      Miss Ings’ Hausdamen-Abschiedsgruß war die Waldbeerenpastete. Durch sie bekundete sie ihre Verbundenheit und gab zugleich ihrem Wunsch Ausdruck, die Familie, deren Haushalt sie seit einem guten Vierteljahrhundert führte, möge in Frieden miteinander leben und sich gefälligst nicht so anstellen.

      Auch Merce aß ein paar Löffel von dem köstlichen Pie. Dann aber schob er den Teller weg und beobachtete seinen Vater. Ihre Blicke trafen sich, und von da an wusste er, dass ihm zwar das Schlimmste noch bevorstand, doch dass er durchhalten musste, wie schlimm es auch kommen mochte.

      Seit Emyr Blackboro die goldene Flasche und sein Lieblingsglas aus dem Kirschholzschränkchen genommen hatte, lag ein seliger Ausdruck auf seinem Gesicht. Miss Ings’ Pasteten waren kaum verzehrt, da räusperte er sich, und noch ehe ihn seine Frau an Dr. Websters Einschärfung erinnern konnte, war das Kristallglas mit Brandy gefüllt, machte er »Schsch!« und bat den einzigen Amerikaner am Tisch um dessen Einschätzung: Was wartete auf die Tochter des alten Muldoon dort drüben?

      Amerika sei groß, und New York sei nicht Amerika. Es hänge davon ab, wohin es sie verschlage, sagte Bakewell. Es komme darauf an, mit wie viel Geld sie New York erreiche, das heißt, wie viel man ihr auf dem Dampfer und im Verlauf der Einwanderungsprozeduren abnahm. Schaffte sie es, in den ersten Monaten etwas beiseitezulegen – vorausgesetzt, sie fand Arbeit –, so hatte sie eine Chance, Fuß zu fassen. Alles Weitere entschieden die Kreise, in die sie geriet. Man konnte bloß hoffen, dass sie ein Gespür hatte für halbseidene Subjekte.

      »Hat sie«, sagte Reg. »Zumindest für walisische.«

      »Gangster also«, sagte ihr Vater.

      Zwielichtige Typen gebe es in Chicago, San Francisco oder Minneapolis genauso wie anderswo, nur biete sich ihnen in New York eine viel größere Auswahl an möglichen Opfern. Mehr als die Hälfte aller Immigranten strande in Brooklyn, Queens oder der Bronx.

      »Ist nicht gegen dich gerichtet, Merce«, fuhr Bakie der Verräter fort, »aber ich hoffe, Ennid findet schnell einen Mann, dem sie vertrauen kann und der Rücklagen hat.«

      Regyn platzte fast vor Empörung. »Vertrauen! Rücklagen! Gott, in welcher Welt lebst du, Billy?«

      »Wir wissen nicht, wohin sie will«, sagte ihr Vater. »Wenn ich nicht irre, verrät uns ihr Brief alles Mögliche, das aber nicht.«

      Emyr Blackboro flüsterte das beinahe und warf dabei einen Seitenblick auf seine Frau. Sie schüttelte langsam den Kopf und legte dann ebenso langsam eine Hand auf Ennids Brief.

      »Wir können ihr also nicht helfen, William?«, fragte Emyr.

      Regyn, die Teetasse am Mund, konnte es nicht fassen. Sie prustete: »Pah! Helfen? Wieso sollten wir ihr helfen? Sie ist weg, Dad, sie hat sich davongeschlichen, nach Amerika! Sie weiß sehr gut, was mein Bruder für sie empfindet, seit Jahren. Ich weiß nicht und will auch gar nicht wissen, was die beiden miteinander hatten. Aber lies in dem Brief, ob irgendwo sein Name steht. Ob sie ihn auch nur grüßen lässt!«

      Damit legte sie ihm, den sie bezichtigte, seine Liebe zu vergeuden, eine Hand auf den Arm. Er spürte, wie sich die Fingernägel seiner Schwester in sein Fleisch bohrten, er hörte den Regen gegen die Scheiben schaben, und er dachte, dass sie alle recht hatten, die hier am Tisch saßen und ihm den Prozess machten, um ihn zu etwas zu bewegen, das er nicht einsah. Es war sinnlos. Genauso gut konnte er sich in das alte Ruderboot seines Vaters setzen, den Usk hinunterrudern – den Wysg, wie Dad den Fluss noch nannte –, auf den Severn hinaus, von dort auf das Môr Hafren, den Bristolkanal, und weiterrudern, immer weiter, rudern über die Irische See und hinausrudern auf den Atlantik. Sinnlos. Schon bald würde ein Meer zwischen ihr und ihm liegen, und sie würde in einem Land verschwinden, das ein Meer aus Häusern, Straßen, Bahnhöfen, Fabriken, endlosen Weiten, riesigen Schluchten und Flüssen und Bergen war, genau so, wie die Stimme des Kindes es zu ihm gesagt hatte: Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben. Da gibt es Flüsse voll riesengroßer Fische, die von einem Meer zum anderen schwimmen. Nicht mal Powys, der Hund, würde von dort zurückfinden nach Trelech-a’r-Bettws.

      Er hörte Regyns Stimme, sie war ihm so vertraut. »Du hast den Brief doch gelesen«, zischte sie ihm ins Ohr. »Schreibt sie nur ein Wort über dich?«

      »Wie kommt es, dass sie ausgerechnet dir schreibt?«, fragte ihre Mutter. »Weiß sie nicht, wie du über sie lästerst? Du hast die kleine Muldoon immer eingebildet gefunden, schon als ihr noch junge Dinger wart und die ganze Nacht geheult und gekichert habt, weil eine von euch einen Liebesbrief bekommen hatte, wahrscheinlich von einem Blinden aus dem Blindenasyl in Crindau. Du hast eine seltsame Auffassung von Freundschaft, Liebling.«

      Reg wurde rot. Sie nahm die Hand weg. Dann fing sie sich, denn sie war kein Mädchen mehr. Sie war selber Mutter, Kriegswitwe, wiederverheiratet, eine erfahrene Frau Mitte 20 – was sie verzweifeln ließ.

      Doch jetzt lächelte sie sogar, als sie sagte: »Lästern? Ich? Für mich ist sie der Mensch, den mein kleiner Bruder vergöttert. Ich persönlich … bin froh, dass sie weg ist. Sie ist mir egal. Ich habe mich lange genug mit ihr vergleichen müssen, Woche für Woche. Die kluge Ennid. Die arme Ennid. Die versehrte, starke, belesene, empfindsame. Ich kenne Ennid Muldoon.«

      »Ich fürchte, Reg hat recht, Mom«, sagte Dafydd. »Sie kennt Miss Muldoon noch am besten – obwohl jeder meint, sie


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