Seeland Schneeland. Mirko Bonné

Seeland Schneeland - Mirko Bonné


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Dufts willen zum Abschied küssen und sie einladen – er würde für alles aufkommen: die Bahnfahrt, die Schiffsreise, den Lohnausfall –, zu ihm nach Ventura zu kommen, für zwei, drei Wochen … Zu welchem Zweck?

      Zwei Stunden Begehren lagen vor ihnen, genauso aber bereits hinter ihnen, neu, schön, schal, fad, neulich, kürzlich, heute, grade, gleich, später, morgen, nächsten Monat, nächsten Herbst. Bah. Es war alles schon geschehen. Wo war der Ausweg? In der Wiederholung? Trugschluss aller Don Juan-Dilettanten. Die Frau, die sein Dilemma verstand, war anscheinend noch nicht geboren. Aber konnte sie nicht bitte allmählich zur Welt kommen?

      »Wird er schon schaffen, ist ein zäher Bursche. Mein bester Mann«, sagte er zu dem Chauffeur, der ihn konsterniert im Rückspiegel ansah. »Und jetzt sehen Sie bitte nach vorn. Dort spielt die Musik, und deshalb fahren Sie mich jetzt in die Musik hinein! Umdrehen. Wenden Sie! Die Kutsche hat doch eine Lenkung, ja? Dann los. Dort vorn im Matsch die junge Lady ganz in Rosa, sammeln Sie sie ein, bevor sie sich den Tod holt. Sie kennen sie?«

      »Miss Simms? Natürlich kenne ich sie, Sir.«

      »Reden Sie mit ihr. Ich möchte, dass sie mitfährt. Überzeugen Sie sie, einzusteigen. Auf mich würde sie nicht hören. Ich gebe Ihnen … drei Gehälter. Wie viel verdienen Sie? Ich habe nur Dollar, mein Freund.«

      »Nein, Sir. Das kann ich nicht an…«

      »Hier. Nehmen Sie. Nehmen Sie!« Er warf die Scheine nach vorn, einen, zwei, drei mit Ulysses S. Grants Konterfei darauf. Jeder sah gleich aus.

      6

      Der junge Mann stand draußen vorm Fenster und winkte, und sie in ihrem Abteil winkte zurück, fröhlich, ausgelassen, sooo nervös, sooo aufgeregt … bis der Qualm der Lokomotive den Mann einhüllte und auflöste zu einem Schemen mit Bärtchen, Hut und patschnassem Staubmantel.

      Sie guckte kurz in ihren lila Taschenspiegel, und die Vorstellung, dass sie die Nacht mit diesem Fremden verbracht hatte, erschien ihr beim Anblick ihres verquollenen Gesichts noch unwirklicher. Zu Hilfe, lieber Herr Jesus!

      Sie musste an die Szene denken, in der Graf Wronski mitten im Schneetreiben auf einem Dorfbahnhof Anna Karenina zum ersten Mal seine Liebe gesteht. Mit einem Mal aber setzte sich ihr Zug in Bewegung, es gab kein Zurück mehr, und kaum lag die Bahnsteighalle hinter ihr, hatte sie den Winkenden vergessen. Sie war furchtbar. Dachte nur an sich selbst. Auf der Fahrt mit seinem Wagen zum Bahnhof hatte ihr plötzlich sein Name nicht mehr einfallen wollen – etwas, das Anna Karenina mit Alexej Wronski niemals passiert wäre. Unendlich peinlich.

      »Schrecklich aber was soll man machen«, schrieb sie in der Interpunktion ihres Herzens und mit ihrer kindlichen Handschrift voller Kreise und Schwünge. »Das Verdeck der blöden Kiste ging nicht zu. Der Regen kam rein u. ich wurde nass u. immer tätschelte er an mir rum. Du hast so schöne Knie. Pfff! Dabei war ich die Sorge selber. Ob ich es pünktlich zum Zug schaffe. Ich glaube dass er O’Neill heißt – Phil – O’Neil oder O’Neary – aber sicher liebste Freundin bin ich mir nicht u. es ist auch absolut ega-hahal. Wenn du ihn triffst lauf bitte schnell weg.«

      Sie musste lachen, als sie das schrieb.

      Der Zug folgte eine ganze Weile dem Ufer des Severn nach Nordosten, bevor er bei Lydney auf der Eisenbahnbrücke über den Fluss hinüber nach Sharpness und hinein nach England fuhr. Schon nach einer knappen Stunde lag Wales hinter ihr, und auch wenn der Regen nicht nachließ, war sie froh (sie machte die Augen weit auf), Gloucestershire wiederzusehen, wo sie als Mädchen im Sommer bei Freunden ihrer Eltern gewesen war.

      Sie aß ihr Lunchpaket, als der Zug in Bristol haltmachte, und sie versuchte ein bisschen zu schlafen zwischen Bath und Warminster, als sie keine Lust mehr hatte, sich mit einer jungen Mutter im Abteil über deren Rotznasen und Quengelbälger zu unterhalten, als gäbe es keine anderen Menschen auf der Welt, nur Kinder und Mütter. In Salisbury stieg die fünfköpfige Meute unter großem Geplärre aus, und sie blieb bis Southampton allein in dem Abteil und las und weinte abwechselnd in der Stille.

      »Ich war nicht traurig wegzugehen aus Newp.«, schrieb sie in dem Brief an Regyn. »Hab geheult wie ein Schlosshund weil es schön war South. zu sehen. Als junge Leute hat er immer gesagt war mein Dad mit meiner Mom dort. Sie sahen sich die großen Dampfer an mit ihren Speisesälen u. Swimmingpools u. Promenadendecks. U. jetzt war ich selber dort u. fuhr bald übers Meer!«

      Es war bereits dunkel, als sie in Portsmouth ankam. Sie schrieb von dem Gewimmel im Hafenbahnhof. Schottische, irische, englische und walisische Männer jeden Alters riefen wild durcheinander und häuften Hügellandschaften aus Überseekoffern auf den Bahnsteigen an, während die Frauen ihre Kinder oder Enkel zusammenzuhalten versuchten und den Nächstbesten ankeiften, wenn ein Gepäckstück fehlte.

      Sie reiste mit einem großen, ganz neuen Koffer und zwei Taschen. In Newport hatte sie einem Schaffner eine Crown gegeben, damit er bis Portsmouth ein Auge auf ihre Sachen hatte, und tatsächlich erinnerte sich der Mann an sie, er lächelte freundlich, als er sie erkannte, weil sie das Bein leicht nachzog. Sie sah das einem Blick gleich an. Er pfiff einen Träger herbei, einen Jungen, der ihr Gepäck in die Halle schleppte (wie eine Ameise). »Ma’am« sagte er zu ihr, deswegen gab sie auch ihm eine Halfcrown.

      Sie hätte genug Geld gehabt, um sich in der Stadt bis zum Vormittag, wenn ihr Schiff abfuhr, ein Zimmer zu nehmen, aber dazu war sie viel zu aufgeregt. Diese Erregung wollte sie auskosten und so lange wie möglich unter all diesen Leuten bleiben, von denen sie keinen kannte und die doch alle dasselbe Ziel hatten.

      Deshalb wartete sie in der Abfertigungshalle, bis ein Platz auf einer Bank frei war, und holte ihren Koffer und die Taschen nach. Sie legte sich ein Wolltuch um, das ihrer Mutter gehört hatte, wartete, bis die Wärme sie durchdrang, dann las sie ein paar Seiten, und obwohl ihr schwindelig vor Müdigkeit war, genoss sie jede Minute, in der sie sich zugleich ausmalte, was vor ihr lag und was Anna Karenina erlebte.

      Viele in der großen Halle ganz aus Stahl und Glas schliefen schon, als ein Gentleman (wie sie zuerst dachte, weil er silbernes Haar hatte und einen Kamelhaarmantel trug) sich zu ihr setzte.

      »Na, Miss, wo wächst so eine hübsche Blume?«, fragte er, und sie hörte und roch sofort, dass er getrunken hatte. Ihr Vater hatte so gerochen, wenn er trank, erst Bier, dann Gin, »Bier für den Pegel, Schnaps für die Segel«.

      »Weg«, antwortete sie, und es blieb das Einzige, was sie zu dem lallenden und stinkenden Mann sagte, bis der sich seufzend endlich erhob und trollte, weil ihn ein Familienvater auf der Bank gegenüber fixierte und sich dabei räusperte. Der Kamelhaarmann verschwand, er ging auf die Suche nach einer Anderen.

      »Armes Ding«, maulte er noch und lachte.

      Sie befragte ihren Spiegel. Sie begutachtete ihren Hals, an ihrer Wange vier Sommersprossen und das runde, nicht sehr eng anliegende, etwas kleinere rechte Ohr, das sie nicht mochte.

      Auch ein paar Kinder waren noch wach, und die kannten kein Erbarmen. Wie die Spatzen jagten sie durch die Halle. Mitleidlos kletterten sie auf ihren schlafenden Eltern und Geschwistern herum. Sie schienen eine nie versiegende Energiequelle anzapfen zu können. Wie weit es war über das Meer, wollten sie von mühsam wach gerüttelten Erwachsenen wissen. Wie lange dauerte es bis Amerika, wie hoch waren diese am Himmel kratzenden Häuser in New York? Und gab es wirklich noch Indianer dort, die mit Pfeilen schossen? Schossen die auch auf die Pferdetrambahnen und die Leute darin?

      »Fährst du mit?«, wurde sie von einem kleinen Mädchen gefragt, das auf einmal vor ihr stand, als wäre es aus dem Fußboden in die Höhe gewachsen. Es hatte blonde, verfilzte Zöpfe, die sich halb gelöst hatten, Sommersprossen, obwohl es noch halb Winter war, »u. es trug einen Mantel grau wie eine Maus«, schrieb sie. »Beinchen guckten aus dem Mantel hervor die in genauso grauen Kniestrümpfen steckten.«

      »Geh zurück zu deiner Mutter«, sagte sie tonlos, und dass sie lesen wolle und dann schlafen, auch wenn das nicht stimmte. Keine Sekunde lang würde sie in dieser zugigen Halle voller wildfremder Menschen die Augen zumachen.

      Das kleine Mädchen rührte sich nicht. Als wäre es taub, blieb es vor


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