Seeland Schneeland. Mirko Bonné

Seeland Schneeland - Mirko Bonné


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er morgens nur deshalb nicht liegen und schlief einfach weiter, weil die Kontorbauten mit ihren Fenstermäulern ihn zu rufen schienen. Sie standen im Regen, und dessen Prasseln war kalt, als käme es von den seit Oktober unsichtbaren Sternen. Hinaufzublicken zu den dunklen Baugerüsten tröstete ihn. Es machte ihn wehmütig, aber die Wehmut erfüllte ihn immerhin, sodass sein Leeregefühl verschwand und er meinte, auch selbst noch nicht fertiggestellt zu sein. Wenn er eines der Löcher fixierte, während er so auf dem Fensterbrett saß und hinübersah zu Ruinen, aus denen um ein Haar Häuser geworden wären, wurde er manchmal seltsam ruhig. Dann glaubte er, sie spüren zu können … Mit einem Mal war sie zurück und spielte es keine Rolle mehr, wie viel Zeit vergangen war, seit Ennid ihn ein einziges Mal in diesem Kontorzimmer besucht hatte.

      Unter dem Schirm in den Mantel gehüllt, lief er durch die Corn Street, überquerte den Kingsway und kam am City Theatre vorbei, wo laut einem Banner überm Eingang Medea gegeben wurde. Hatte Ennid das Stück gelesen? Regyn ausgeliehen hatte sie es nicht. Wenn sie die Inszenierung gesehen hatte, dann mit keiner ihrer Freundinnen. Wieso war er in sieben Jahren nie im Theater mit ihr gewesen?

      Sie las in letzter Zeit viel Tolstoi. Hatte der auch für die Bühne geschrieben? Die Traurigkeit kroch ihm durch die Brust. Er stellte sich unter den Portikus, wo es trocken war, und schüttelte den Schirm aus. Auf den Steinfliesen bildeten die Regenspritzer ein Muster, das einem schwarzen Sternbild glich. Willie-Merce hatte ihm erst vor ein paar Stunden ein ganz ähnliches Bild gezeichnet.

      Reg war ins Kontor gekommen und bat ihn und die beiden Sekretärinnen, eine Stunde auf den Kleinen aufzupassen, damit sie ihren Vater zu einem Arzttermin begleiten konnte.

      Sein Neffe war seit Kurzem sechs. Er war ein schmächtiger Junge mit weichem, stumpf blondem Haar, der nicht viel sagte, wie sein Vater Herman aber die Phantasie eines Konstrukteurs oder Ingenieurs besaß. Ab und zu glitt Willie reptilartig von dem Ohrensessel, in dem er zusammengesunken saß und zeichnete, dann wirkte er überrascht, schien sich zu fragen, wo er war, rappelte sich auf, kam zum Schreibtisch und hielt seinem Onkel sein jüngstes Buntstiftbild hin.

      Ein Urwald war darauf zu sehen, in dem sich ein Löwe mit einer Krone auf dem Kopf versteckte. Willie hatte die Krone aus Ziffern gemalt, und auch der Dschungel, die Bäume, Lianen und Schlingpflanzen bestanden aus kunterbunten Zahlen, die überall in die Höhe wuchsen und von überall herabhingen. Der Himmel auf dem Bild war weiß und voller schwarzer Sternbilder.

      Sogar Regyn, die nicht viel bewunderte, hatte die Zeichnung nach ihrer Rückkehr von Dr. Webster als »super« bezeichnet.

      »Lauf und zeig das mal deinem Grandpa«, sagte sie, woraufhin der Kleine aus dem Zimmer stürmte, um unterm Gekicher von Mrs. Nelthorpe und Miss Nettleship laut nach seinem Großvater rufend den Flur hinunterzurennen.

      Reg schloss die Tür. Sie habe einen Brief bekommen, sagte sie ernst, als sie allein waren. Sie flüsterte und sah ihn mit besorgtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen an. Von Ennid.

      »Hatte noch nicht die Zeit, ihn zu lesen, aber … Wusstest du, dass sie verreist ist?«

      Schlagartig wurde ihm heiß. Der kalte Schweiß der Überrumpelung brach ihm aus.

      »Verreist wohin?«, fragte er möglichst unbeteiligt und blätterte dabei in unsinnigen Papieren, die wie Willies Zeichnung mit Zahlen übersät waren.

      »Aufgegeben hat sie ihn in Portsmouth.« Reg zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, das interessiert dich – wohl ein Irrtum.«

      Sie klopfte sich etwas Unsichtbares von dem Gabardinemantel, den ihr Bakewell von seiner letzten Geschäftsreise mitgebracht hatte, dann öffnete sie die Tür und setzte ihren Hut auf. Es war ein kleiner, grauer, vom Regen dunkel gesprenkelter Hut.

      »Umso besser«, sagte sie entäuscht. »Muss los.«

      Aus dem Flur war das glucksende Gelächter des Jungen zu hören, offenbar wurde er von seinem Opa durchgekitzelt.

      »William-Merce Bakewell, sofort stehst du vom Boden auf! Dad, du sollst dich schonen! Die Sachen, die der Kleine anhat, Gott, liebe Miss Nettleship, wissen Sie, wie teu…«

      Damit ging die Tür zu. Den Rest hatte er nicht gehört. Er hatte sich die Ohren zugehalten und, als erneut Stille eingekehrt war, weiter aus dem Fenster gesehen.

      Weder auf der Corn Street noch dem Kingsway sah man einen Menschen, und das Theater war dunkel, obwohl für den Abend eine Aufführung auf dem Programm stand.

      Er ging weiter. Aber nichts mehr zog ihn jetzt in seine Zimmer, wo nur die Stille, das Dunkel und Mrs. Splaines Katze ihn erwarteten.

      »Was man liebt, versucht dem Betrachter zu entkommen«, sagte Shackleton einmal, das war ihm nie aus dem Kopf gegangen.

      Um sich zu erholen, lasse das Auge kurz ab von bewunderten, bewegungslos erscheinenden Gegenständen. Suche es diese von Neuem, finde sie das Auge so verblüffend weit weg, als hätten sie den unbedachten Moment genutzt, um mit einem Satz eine riesige Entfernung zu überwinden … Ob Sir Ernest das angesichts der Shag Rocks oder beim Anblick eines Eisbergs sagte, wusste er nicht mehr.

      Der Regen floss wie an schrägen Fäden vom Himmel. Es regnete und regnete, und die Wolken, aus denen es so schüttete, sahen aus, als wären sie immer dieselben.

      Ohne zu wissen, worauf, schien alles zu warten und stillzustehen.

      Wie Ennid da hatte verreisen können, war ihm ein Rätsel.

      Miteinander wirklich zu reden, schon das war eine fast unlösbare Aufgabe. Wie sollte man da erst mit den Dingen ins Gespräch kommen?

      In grüblerische Selbstgespräche versunken, lief er kreuz und quer durch die Stadt. Nirgends traf er einen Menschen, mit dem er hätte reden mögen. Stattdessen klapperte er die Orte ab, die er mit Ennid verband, zum Beispiel am Ebbw-Ufer die Bank, auf der sie manchmal mit Mari saß und Fish and Chips aß.

      Vielleicht wäre es mutig gewesen, zu ihr zu gehen und es ihr ins Gesicht zu sagen: »Ennid, geh nicht weg.« Besuchte sie jemanden in Portsmouth? Er hatte daran seine Zweifel, bloß ein ungutes Gefühl im Grunde, wahrscheinlich nichts als Verlustangst. Der Gedanke, Newport zu verlassen, war ihm nie gekommen. Wo alles stillstand, war wegzugehen da nicht zwecklos?

      Sieben Jahre war es her, dass er im Kontorzimmer seines Vaters, das jetzt seines war, mit ihr geschlafen hatte – wenn man es so nennen konnte.

      Es war schnell gegangen.

      Sie waren noch halbe Kinder gewesen und hatten sich in den Wochen ihrer Verliebtheit immer wieder auch gestritten wie Kinder.

      Er erinnerte sich an ihren Taschenspiegel. Sie hatte sich geschminkt und darin betrachtet. Sie setzte sich auf seinen Schoß und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich mag dich wirklich sehr.«

      Er spürte ihre Hüften, ihre Beckenknochen, und ihr Kinn war dicht vor seinen Augen. Immer schneller wanderte ihr Gesicht, aus dem der Duft drang wie ein Licht, auf und ab vor seinen Augen, bis es auf einmal stillstand und genau vor seinem ihr Mund aufging.

      Leise, dunkel keuchte sie: »Ja!«

      Diesen dunklen, warmen Ton hörte er seither in jedem Ja, egal, wer es sagte.

      Er spürte, wie sie sich tief im Innern anfühlte, die Hitze, die nicht nach außen drang, die Weichheit, ihren Geruch, etwas Tierisches, zugleich unbedingt Sanftes, nie zu Bändigendes, unfassbar Freies.

      Sie hatte aus ihrer Handtasche, die wirklich kaum größer war als eine Hand, ihren Spiegel geholt, ihn fallen lassen, er hatte ihn aufgehoben und ihr gegeben, ein verblüffend winziges Ding, ein lila eingefasstes Spiegelchen. Es schien ihr sehr wichtig zu sein.

      Bei diesem einen Mal war es geblieben.

      Kein Wort hatten sie je darüber verloren.

      Tags darauf ging er an Bord.

      Und gleich sein allererstes Schiff, die John London, erwies sich als Seelenverkäufer und sank in einem schweren Sturm vor Uruguay. Er war siebzehn, und gerade war der Krieg ausgebrochen, der vier Jahre dauern sollte.

      Währenddessen


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