Seeland Schneeland. Mirko Bonné

Seeland Schneeland - Mirko Bonné


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hatten immer dasselbe Ziel: Meeks wollte seine Heimat sehen, es zog ihn nach Wales, wie es die halbe Welt nach Venedig zog – warum eigentlich? Alle zwei Jahre ging das so. Venedig kaufen, das wäre ein Plan! Venedig kaufen und es versenken.

      »Ziehen Sie sie mal hoch, die Ente, dann eine Linkskurve!«, rief er dem Piloten ins Ohr, der ihn daraufhin über die Schulter hinweg ansah wie ein Gymnasiast, den man aufforderte, von einem Aquädukt zu springen.

      »Na los! Dazu sind Sie schließlich hier! Ich verlange ja nicht, dass Sie einen Looping fliegen oder so was.«

      Er gehorchte, er sprang. Als die Harper die Nase hob und die Motoren aufheulten, spreizte Robey die Beine, um sicher zu stehen, er hielt sich am Türrahmen fest. Er zog den Flachmann aus der Innentasche und trank einen kräftigen Schluck Gin.

      Er hatte keine Angst. Angst hatte er zuletzt gehabt, als er acht oder neun gewesen war. Woher kommt die Luft, fragte er sich, wo ist die Kiste so undicht? Er wandte sich um, und jenseits des Vorhangs, der jetzt in die Kabine hineinhing, sah er Meeks hochrot im Gesicht Rachegedanken hinter einer aufgeschwemmten Maske aus britischer Schockiertheit verbergen. Zeternd ging die Harper in Schräglage, klagend kippte sie nach links, schreiend raste sie hinab durch die blaue Leere auf das Wolkenmeer zu, bis der Junge – Eddy, so hieß er, ja – sie auffing und mit dem wiedergefundenen Horizont beschwichtigte.

      Pluspunkt für ihn, Minus, Minus, Minus für die Flugzeugbaukunst von Mr. Meeks’ Landsleuten.

      Was hatten sie von Wales gesehen? Die grauen walisischen Felder im Regen, die tristen walisischen Käffer im Dunst und von hier oben, aus dem Blechschmetterling, Wolken, Wolken, Wolken.

      Er las Maris Zettel. Auf die Ecke eines Blattes mit dem roten Schriftzug HARPE (R BROTHERS war abgerissen, quer durch ein kleines Flugzeug) hatte sie ihm ein lächelndes Gesicht gezeichnet und darunter geschrieben: »Das Leben ist schön.«

      Rührend. Als er zu seinem Platz zurückging, nickte er ihr zu. Sie freute sich.

      Eingeschnürt von dem Gurt und verfolgt von der Furie seiner Enttäuschung, war er restlos überzeugt, dass nicht der junge Flieger das Problem war, sondern das unausgereifte Fluggerät, die Harper Airrant 3, die um einiges zu leicht war für drei Liberty-Motoren, um Motoren, Tragflächen, Rumpf und vor allem Insassen wohlbehalten über den großen Teich zu befördern. Nein, die Harper-Konstrukteure brauchten gar nicht erst nach New York zu kommen.

      Eine schlechte Maschine war das nicht. Vor wenigen Wochen in Halifax bei Glenn Curtiss und im Herbst 1919 bei Blériot in Suresnes hatte er Pläne für drei größere Flugzeuge geprüft, die alle in den Atlantik gestürzt wären. Unerfindlich worüber, lachte Blériot unablässig. Junkers, der angeblich an einem »Ganzmetalllangstreckenpassagierflieger« tüftelte, ließ verlauten, er antworte nicht auf Briefe eines Hotel-Tycoons. Und von Sikorski hieß es, er sei den Schergen Lenins knapp entronnen und irgendwo in Amerika untergetaucht, ausgerechnet. Gut möglich, dass er in Wirklichkeit gar nicht mehr auf Erden weilte. Womöglich hatte ihn die rote Bande an die Wand gestellt und in einem karelischen Moor verscharrt.

      Aber auch diese walisische, mittlerweile neunzehnte Maschine, mit der er flog, würde keine Passagiere lebend von New York nach Paris oder London befördern. Ob es an den Motoren lag, die zu schwer oder stark waren, an den Nieten oder dem Stahlblech, das die Harper-Brüder bei ihrer Airrant verwendet hatten, konnte er nicht sagen. Er war ein Laie, der Deutsche hatte recht. Spielte das eine Rolle? Er hatte genug Geld, um sieben so selbstherrliche Fritzen wie Hugo Junkers bis ans Ende ihrer Tage Flugzeuge bauen zu lassen. Wenn der nicht wollte, würde er einen anderen finden, vielleicht doch Igor Sikorski, wenn der noch lebte. Aber Diver Robey – und der war er, noch immer – hatte nicht bloß Geld, sondern auch Ohren. Er hörte, wie hier alles zunächst summte, dann sang, dann dröhnte und schrie, und er spürte ein Vibrieren, das sich auf seinen Körper übertrug und sein Herz rasen ließ.

      Angst war das keine, und wer, bitte, wäre man, würde man jedem die Erregungszustände zeigen, die man von früh bis spät mit sich herumtrug. Spring von dem Aquädukt, oder schlag den zu Boden, der solchen Unfug von dir verlangt. Wie herrlich war es zu fliegen! Nur das zählte – höchstpersönlich der archimedische Punkt zu sein, von dem aus man das eigene Leben wie von außen, als Gast, als Fremder, und zugleich aufs Innigste betrachten konnte. Er liebte jede Sekunde dieses Abenteuers, weil dann stimmte, was auf dem Zettel stand und was im Gesicht der jungen Miss zu lesen war. Zu leben war dann schön.

      Bis sie landeten, würde er sich die Wirkung von einem Viertel Nembutal, aufgelöst in Gin, ausmalen und an Bryn Meeks vorbei scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster sehen – auf die unbekannte Hafenstadt dort unten mit der auffälligen Transporterbrücke, auf ein Flüsschen, das aus dem Landesinnern geschlängelt kam, auf die Küste und ihre Strände, die grau und verlassen wirkten, und auf die Wolkenschwaden, durch die die Maschine mal beinahe stumm und mal schreiend hindurchstieß, aufwärts und abwärts, Schwaden, so kalt, weiß und endlos wie das ungemachte Bett Gottes.

      3

      Hatte er wirklich Liebeskummer, so wie seine Eltern, seine Geschwister und sein Schwager und bester Freund Bakewell behaupteten? Ihm wäre nie eingefallen, seine Traurigkeit so zu nennen. Er liebte Ennid. Vielleicht also hatte er Ennid-Muldoon-Kummer. Doch stärker als der war in jeder Sekunde die Liebe zu ihr.

      Wenn er gegen Mitternacht das Licht löschte und sein Kopf auf das Kissen sank, lauschte er noch eine Weile auf die Geräusche des nahen Hafens. Sie drangen durch den schmalen Fensterspalt, aber es dauerte nie lange, bis pochende Stille das ferne Tuten eines Nebelhorns und das Gehämmer von Dockarbeitern überlagerte. Ab da war er allein mit dem Dunkel, allein mit den Gedanken, die ihn an diesem Tag umgetrieben hatten, und nur wenn er die Lider schloss, tanzten noch, wie Schwärme von Tiefseefischen, bunte Bilder an seinen Augen vorüber, so lange, bis er sich auf etwas konzentrierte, das ihren Ansturm abwehrte.

      Zwei Zimmer, das eine mit Bett, Stuhl und Schrank, das andere mit Tisch, drei weiteren Stühlen und einer Waschgelegenheit, auf dem Korridor die Abseite mit dem Klosett, das er sich mit seiner Wirtin teilte, die Witwe war und ihm die Wäsche wusch … er hatte diese erste eigene Bleibe von dem Moment an gemocht, seit er letzten Sommer in Pillgwenlly ausgezogen war und Dafydd ihn und seine Habseligkeiten mit einem so riesigen Automobil hier abgesetzt hatte, dass es die ganze Skinner Street verstopfte.

      Immer wieder musste er sich klarmachen, dass sie keine Zufälle waren, diese Zimmer, dieses Bett und seit einem halben Jahr des Nachts auch er selber hinter einem Fenster hier, das auf die uralte Gasse hinaussah. Kopfsteinbepflastert, baumlos und farblos bis auf ein verblichenes Wappen überm Hauseingang schräg gegenüber, führte die Straße zum Hafen hinunter. Das Wappen zierte Newports ältesten Pub, der nach Lord Gruffydd ap Rhys hieß, angeblich weil der 1176, als Südwales noch Königreich war und Deheubarth hieß, dort mal übernachtet hatte. Aber »Skinner«? Hatten früher Kürschner in der Straße ihre Werkstatt gehabt, oder war hier ein Abdecker gewesen? Am Ende der Skinner Street, wo sie auf den von Platanen bestandenen Cardigan Place mündete, hatte der alte Muldoon gewohnt und sein Geschäft betrieben, bis der Schiffsausrüster kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe starb. Er hatte in Quiltyn Muldoons Laden dessen Tochter kennengelernt, und im ersten Stock des ganz mit grünen Blechplättchen beschlagenen Hauses oben auf dem Platz, nur einen Steinwurf entfernt, wohnte Ennid noch immer.

      Das kleine Mädchen, das er manchmal hörte und das ihm immer wieder überraschend etwas von sich und einer ungewissen Zukunft, von Enttäuschungen, Wünschen und Träumen erzählte – war das Ennid als Kind?

      »Mach eine Liste«, sagte er sich, um die herbeischwirrenden Bilder von ihr zu vertreiben. »Sag dir in Gedanken, was du außerdem liebst.« Denn sie konnte jeden Moment durch die Skinner Street gehinkt kommen – sie zog ein Bein leicht nach, jeder zweite Schritt klang verzögert –, noch spätnachts, weil sie Freunde hatte und viel unterwegs war. Schon klappte er im Dunkeln die Lider auf wie ein seit 100 Jahren nicht mehr lebendiger, ebenso wenig aber toter Vampir, vor dessen Fenster die Lichtkegel eines Wagens vorbeistrichen, Indiz dafür, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut am Steuer saß.

      Eng war es in den zwei Räumen. Die alten Tapeten warfen Blasen,


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