Glam. Simon Reynolds

Glam - Simon  Reynolds


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zwischen »All You Need Is Love« und »Hot Love«, zwischen den Beatles und T. Rex, betrat ich die Welt der Popmusik. Sie offenbarte sich mir vor allem über den Fernsehbildschirm, über Kindersendungen und Top of the Pops.

      Vier Jahrzehnte lang lief Top of the Pops. Den Großteil dieser Jahre bildeten die aktuellen und zukünftigen Chart-Hits eine bunt zusammengewürfelte Mischung aus mittelmäßigem, neuartigem und professionellem Pop. In den frühen 1970ern kippte die Sendung allerdings ins Überdrehte und Verrückte – der britische Pop wurde überrannt vom Absurden, Exzessiven und Grotesken. Top of the Pops schien plötzlich knallbunt, selbst auf den Schwarz-Weiß-Fernsehern, die in diesen Jahren noch in den meisten britischen Haushalten standen.

      Auch wir hatten so einen Fernseher. Bis 1971, als ich acht war, besaßen wir gar keinen, darum ist Glam die erste Popmusik, an die ich mich deutlich erinnern kann. Ich kannte Glam aber nicht als Glam, als einen bestimmten, eigenständigen Abschnitt der Popgeschichte. Was ich da auf dem Bildschirm sah, war schlicht und einfach das, was Pop zu dieser Zeit darstellte: extrem und fantastisch, gleichzeitig albern und unheimlich.

      Eine meiner frühesten Pop-Erinnerungen ist, wie mich der Anblick und der Sound von Marc Bolan bei Top of the Pops aufwühlten, er sang vermutlich »Children of the Revolution« oder »Solid Gold Easy Action«. Mehr noch als die bedrohliche Sinnlichkeit des T.-Rex-Sounds zog mich Bolans Look in seinen Bann. Seine Haare, die sich wie elektrifiziert kräuselten, seine von Glitter bedeckten Wangen, dann noch dieser Mantel, der aus Metall zu sein schien – Marc wirkte wie ein Kriegsherr aus dem Weltraum.

      Marc Bolan war der Funke, der die Glam-Explosion zündete, und er bekam schnell Gesellschaft: Der Plastik-Aufstand von The Sweet. Gary Glitters wilder Bubblegum. Das triumphierende Stampfen und Brüllen von Slade. Wizzards knallige Fanfaren und gefärbten Haare. Das gesittete Auftreten zu tobendem Lärm von Roxy Music. Alice Cooper, der dämonische Rattenfänger. Die verwegene Schauspielkunst der Sparks. Und mittendrin David Bowie, der in seiner eleganten Sonderbarkeit das ganze Jahrzehnt überstrahlte, wie es die Beatles in den 1960ern getan hatten. »Space Oddity« – 1975 wiederveröffentlicht und sein erster Nummer-eins-Hit – beeindruckte mein junges Ich nachhaltig.

      Die aus Glam abgeleitete Vorstellung davon, was Pop ist und sein sollte – außerirdisch, sensationalistisch, hitzig und witzig, ein Ort, an dem das Erhabene und das Lächerliche nicht auseinanderzuhalten sind –, hat mich seitdem nie wieder verlassen.

      Mitte der 1980er entdeckte ich Glam wieder. Mittlerweile war ich zum leidenschaftlichen Musikfan und jungen, unerfahrenen Kritiker gereift. Zu den Eindrücken, die sich aus meiner Kindheit eingebrannt hatten, gesellten sich nun reflektierte Gedankengänge: Ich bekam zunehmend das Gefühl, dass die radikale Offenlegung und Entmystifizierung der Prozesse und Mechanismen hinter dem Spektakel durch Punk und Post-Punk auch einen Verlust bedeuteten. Während ich die knisternden Singles hörte, die meine Freunde und ich in Secondhandläden und auf Flohmärkten ausgegraben hatten – Songs von The Sweet, Glitter, Hello, Alice Cooper –, zog mich eine Epoche in den Bann, in der Pop gigantisch und wahnsinnig gewesen war, voll von großen Gesten und Leidenschaft. Diese längst vergangene Zeit schien das Gegenteil vom Pop der Post-Post-Punk-Ära der 1980er zu sein, denn der war erwachsen, verantwortungsbewusst, einfühlsam und sozial engagiert.

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      Glam – in den USA auch Glitter genannt – bezeichnet eine Gruppe von Künstlern und Bands, die oft über Zusammenarbeiten und das gleiche Management miteinander verbunden waren und sich in freundschaftlicher Rivalität gegenseitig anstachelten. Glam beschreibt auch ein Bewusstsein, einen Zeitgeist, der Anfang der 1970er aufkam und vier Jahre lang aufblühte, ehe er kurz vor der Punk-Explosion wieder versandete. Über seine allgemein akzeptierte historische Rolle (als Ära, Genre, Szene, Bewegung) hinaus kann Glam auch als zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden. Als solches umfasst er sowohl seine Vorläufer im Rock selbst (die Rolling Stones, The Velvet Underground, Little Richard und andere) als auch deren Vorgänger, die bis tief ins 19. Jahrhundert oder sogar noch weiter zurückreichen. Heute gibt es Fans, Kritiker und Künstler, für die Glam eine Lebensüberzeugung, ja fast schon eine Weltanschauung ist. Für diese Leute dient er als Prisma, durch das sie alles wahrnehmen, was sie an Musik und Popkultur schätzen.

      Im Sinne dieses Buches ist Glam ein dehnbarer Begriff, unter den außer den offensichtlichen Kandidaten auch ein paar ungewöhnlichere Interpreten des Art Pop sowie dem theatralischem Rand des Rockspektrums fallen, etwa The Sensational Alex Harvey Band, The Tubes oder Queen. Wie die meisten Musikgenres und -szenen ist auch Glam unscharf definiert und überschneidet sich mit angrenzenden Stilen wie Teenybop, Prog Rock, Singer-Songwriter und Hard Rock. Auch als Epoche ist der Anfang und das Ende von Glam nur schwer greifbar. Künstler wie Bowie, T. Rex, Alice Cooper oder Roxy Music entstammten dem Hippie-Underground und brauchten eine Weile, um sich von ihren post-psychedelischen Einflüssen zu lösen. Und viele seiner späteren Vertreter deuteten bereits auf Punk hin und erlebten in der New-Wave-Phase der späten 1970er sogar einen zweiten Frühling. Also habe ich den Begriff großzügig und lose ausgelegt und, statt mich wegen strikter Definitionen verrückt zu machen, stets den Weg eingeschlagen, den mir die Musik, ihre Protagonisten und deren Geschichten vorzugeben schienen.

      Einer Frage lässt sich nichtsdestotrotz kaum aus dem Weg gehen: Was genau ist es, das den Glamour des Glam von den üblichen Tumulten des Pop unterscheidet? Schließlich sind Eleganz, durchgeplante Bühnenkunst und Spektakel – in welchem Ausmaß auch immer – ein fester Bestandteil des Showbiz im Allgemeinen und von Pop im Speziellen. Ein entscheidender Unterschied liegt im unerschütterlichen Selbstbewusstsein, mit dem Glam-Künstler Kostüme, Theatralität und die Verwendung von Requisiten zelebrierten, denn das geschah oft nah an der Grenze zur Parodie. Glam Rock lenkte die Aufmerksamkeit auf seinen eigenen Täuschungscharakter, inszenierte sich offen als Fake. Als Performer agierten Glam-Künstler despotisch: Sie dominierten ihr Publikum, wie es eigentlich alle wahren Entertainer tun. Doch gleichzeitig betrieben sie gewissermaßen eine spöttische Dekonstruktion ihrer Rollen und Posen, persiflierten die Absurdität nicht nur ihrer eigenen Performance, sondern des Prinzips der künstlerischen Darbietung an sich.

      Glam Rock stellte seinen Glamour aber auch deswegen so offen zur Schau, weil er eine Reaktion auf die vorhergehende Epoche war. Der »Unglam«-Rock, der reife, leger gekleidete Rock von 1968 bis 1970, machte Glam überhaupt erst möglich und gab ihm eine Linie: die trotzige Zelebrierung von Glitzer, Leicht- und Unsinn. In der Zeit von 1968 bis 1970 – der Ära von Abbey Road, Music from Big Pink, Atom Heart Mother, At Fillmore East, Déjà Vu, Tommy, Blind Faith – wurde Rockmusik erwachsen. Kindische Dinge wie Singles und Pop-Images blieben dabei auf der Strecke. Die Stadien und Radios wurden von sanftem Country Rock, Hippie-Jam-Bands in Ockerfarben und zahllosen unscheinbaren bluesbeeinflussten Boogie-Bands dominiert. Egal ob sie sich an ihren Wurzeln orientierten oder versuchten, sich weiterzuentwickeln: All diese Bands waren sich darin einig, dass es im Rock um die Musik ging und zwar um nichts anderes als die Musik. Ein Image zu pflegen oder eine große Show aufzuziehen, galt als unreif, spießig, kommerziell.

      Glam begehrte gegen diese trostlose Ansammlung von Bärten und Jeans auf und wurde so zur ersten Teenage-Rebellion des neuen Jahrzehnts. In mancher Hinsicht war er die Wiederauferstehung des Geistes der 1950er, als Rock ’n’ Roll noch etwas war, das man sowohl hören als auch sehen konnte: den extravaganten Camp Little Richards etwa oder die ungebändigte Selbstdarstellung eines Jerry Lee Lewis. Um eine ähnliche audiovisuelle Wirkung zu erreichen, mussten die Glam-Rocker allerdings noch ein paar Schritte weiter gehen: die im Pop der 1950er und 1960er bereits vorhandenen androgynen und homoerotischen Strömungen noch verstärken, mit dem Nervenkitzel von Verweigerung und Dekadenz flirten, das Publikum mit grell übertriebenen Kostümen und inszenierten Skandalen in Ehrfurcht erstarren lassen.

      Auch musikalisch bedeutete Glam eine Rückkehr. Zur Simplizität des Rock ’n’ Roll der 1950er und der Härte der Beat-Gruppen von Anfang bis Mitte der 1960er. Glam schickte sich also an, die vorherige Rockmusik – den stark behaarten Heavy Rock – komplett ins Gegenteil umzukehren: An die Stelle von protziger Musik und simplen Klamotten traten protzige Image-Exzesse zu simplem, auf sein Wesentliches reduzierten Rock ’n’ Roll.

      Was


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