Glam. Simon Reynolds
Ob die Feministinnen auch Rasierklingen in den Müll warfen, ist nicht überliefert. Doch Körperbehaarung – in den Achselhöhlen und auf den Beinen sowie auf dem Kopf und in Männergesichtern – wurde, neben Nacktheit, zum mächtigsten Symbol der Dekade für Ehrlichkeit und Natürlichkeit. Behaart zu sein bedeutete, seinen Körper in seinen wilden Urzustand zurückzuführen. Hair, ein Hit-Musical, das die Gegenkultur zweckentfremdete, endet mit Massennacktheit auf der Bühne. In radikalen Theaterstücken wie Dionysus in 69 und Paradise Now wurde Nacktheit zum Standard. Auch Festivals wie Woodstock oder Glastonbury kamen nicht ohne völlig unerotisch im Schlamm herumtanzende oder unschuldig auf der Wiese poppende nackte Hippies aus. Das vielleicht größte Sinnbild der späten 1960er ist das Nacktfoto von John Lennon und Yoko Ono auf dem Cover ihres Albums Two Virgins: die langen fettigen Locken, die aus der üppigen Schambehaarung heraushängenden Genitalien. Nachdem er die Urschreitherapie – eine Form emotionaler Nacktheit – ausprobiert hatte, brachte Lennon das Kernanliegen der Gegenkultur mit einem verzweifelten Protestsong auf den Punkt: »Gimme Some Truth«.
Glam hingegen forderte: »Gimme some untruth«. Nicht die Wirklichkeit würde befreiend wirken, sondern die Fantasie. Glam scheute das Natürliche, Organische und Gesunde. Stattdessen gab er sich dem Unnatürlichen hin, dem Plastischen und Künstlichen, und testete damit im Wesentlichen das aus, was später als Postmodernismus bezeichnet werden sollte. Anfang der 1970er war der Begriff »postmodern« weit entfernt vom allgemeinen Sprachgebrauch und wurde fast nur von Architekturtheoretikern benutzt. In abtrünnigen Bereichen der 1960er-Kultur waren Geisteshaltung und künstlerische Techniken der Postmoderne aber schon angelegt worden, besonders im schwulen Underground und in der Pop Art. Glam war stark beeinflusst von diesen Vorreitern, von Camp und Warholismus. Seine ironischen und selbstbezüglichen Charakterzüge kamen auch aus der Pop-immanenten Tendenz, auf seine eigene Vergangenheit zurückzugreifen, seiner Jugend zu huldigen und das Hochgefühl seiner Anfangstage zu wiederholen. Das geschieht zum einen aus Nostalgie heraus, aber auch aus Respektlosigkeit: dem Impuls, sich durch Parodien und Karikaturen über sich selbst lustig zu machen.
Mein eigenes Verhältnis zu Glam – von ihm als Kind in Erstaunen versetzt zu werden und ihn später auf eine bewusstere, analytischere Weise wiederzuentdecken – spiegelt wider, was im Glam selbst passierte. Die meisten seiner Protagonisten – Bolan, Bowie, Mott the Hoople, Roxy Music, Gary Glitter, Slade, New York Dolls, Roy Wood – beschworen bewusst ihre eigenen Erstbegegnungen mit Pop und Rock in den 1950ern oder Mitte der 1960er wieder herauf. Was für mich 1972 pure, unreflektierte Emotion war, war für die Künstler selbst bereits distanziert und ironisch, eine Vorstellung von »Unschuld« und »Wildheit«.
Glam ist ein polarisierendes Konzept. In seiner Hochzeit wurde er von einigen als geistige Wiederkehr der imagebewussten Inszenierungen der Rockmusik gefeiert, die durch den Authentizität der späten 1960er in Verruf geraten waren. Andere sahen in ihm jedoch eine Annäherung an das Showgeschäft und damit als einen Rückschritt. Eine Sache, die ich an Glam besonders faszinierend finde – und die, meine ich, nicht unschuldig daran ist, dass er gerade jetzt wieder größeren Nachhall findet –, ist die Art und Weise, wie er radikale und reaktionäre Elemente vereinte. Auf der einen Seite steckte er voller Innovationen in Sachen Style, visueller Aufmachung, Theatralität und sexueller Experimentierfreudigkeit. Auf der anderen Seite war sein Eskapismus – seine Nostalgie, aber auch seine Dekadenz – regressiv. Auch musikalisch scheint Glam gleichzeitig nach vorne und zurückzublicken. Es ist sicher kein Zufall, dass seine Prinzipien popkulturell immer dann im Aufwind sind, wenn ein politischer Rechtsruck stattfindet: Nixon und Heath in den frühen 1970ern, Reagan und Thatcher in den 1980ern und zuletzt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
Dafür, wie unwiderstehlich seine Charaktere, wie legendär seine Großtaten, wie übergroß seine Gesten und wie fantastisch seine Platten sind, basiert Glam Rock als Bewegung stärker auf Desillusionierung, als man annehmen würde. Er war ein Zufluchtsort vor den kollektiven, politischen Träumereien der 1960er. An ihrer Stelle bot er eine fantastische, individualisierte Flucht durch Ruhm und Glanz. Die Verwirklichung dieser Fantasie war vom jeweiligen Künstler abhängig. Sie konnte die Form einer neureichen Karikatur voller majestätischer Herrlichkeit (in der Tradition Gracelands) annehmen oder die Eleganz eines Dandy-Ästheten, der sein ganzes Dasein den Vorzüglichkeiten des Lebens widmet: Er sammelt Antiquitäten und Kunstwerke, besucht exotische Orte, zieht alle Augen auf sich und gibt sich allen möglichen Genüssen und Sinneseindrücken hin.
Glam-Fans erschufen eine eigene Elite, indem sie ihren Idolen nacheiferten – wenn auch eine, die ihre aristokratischen Fantasien stellvertretend durch Platten, Konzerte und Musiklektüre auslebte. Glam führte ein neues Phänomen in den Pop ein: Fans, die sich für Konzerte kleideten wie der Star des Abends (zu beobachten bei Bolan, Bowie und Roxy Music, aber auch bei Gary Glitter, Slade und The Sweet). Der Star stand nun nicht mehr als Repräsentant einer bereits existierenden Community auf der Bühne (wie etwa The Who als Vertreter der Mods), sondern kommandierte eine aus seinem Ebenbild geformte Anhängerschaft. Diese Dynamik verweist auf die Essenz des Glam, nämlich seine Verbindung von Exhibitionismus und Autoritarismus: Der Star zieht den Fan in seinen Bann, der Fan wird zugleich Voyeur und Untertan.
In diesem Buch geht es um die Macht des Scheins. Nicht wenige Protagonisten dieser Geschichte waren wahnhafte Narzissten, die um sich herum eine Blase aus alternativen Realitäten schufen und eine große Anzahl Menschen überzeugten, sich ihnen in diesen anzuschließen. Weil es Popmusik ist, ist dieser Prozess vergleichsweise harmlos – abgesehen von krankhaft besessenen Fans sowie den Idolen selbst, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, aus dem fantastischen Kokon auszubrechen, den sie gebaut haben. Trotzdem macht es Sinn darauf hinzuweisen, dass Sektenführer und Politiker, die sich mit utopischen Versprechungen als Erlösergestalten inszenieren, die gleichen charismatischen Techniken benutzen.
Denn Pop ist Persönlichkeitskult. Er basiert auf dem Glauben, dass manche Menschen außergewöhnlich sind und dass die Gewöhnlichen durch direkten Kontakt oder Nachahmung ein Stück von ihrem Kuchen abhaben können. Und manche von denen, die dieses Spiel am besten beherrschen, sind geborene Lügner. Glamour ist die Lüge, die man so gut erzählt, dass man sie irgendwann selbst glaubt, gemeinsam mit den Anderen, die es ohnehin schon taten.
Dieses Buch handelt auch von Wahrnehmung und Wahn als sozialen Begebenheiten, von Massenhypnose und Massenhysterie als real existierende Phänomene, die Tausende von Menschen erfassen. Aber es durchleuchtet auch die Realitäten hinter diesen Phänomenen – wie Aufregung kreiert und Kontroversen geplant werden – und blickt auf all die Manipulationen und Ablenkungen, auf die Tricks hinter der Magie.
Um zu dem Künstler zurückzukehren, mit dem bei mir alles anfing, der mich als Kind am meisten faszinierte: Marc Bolan schien aus dem Nichts zu kommen. Er war ein Zauberer, ein bereits völlig realisierter Star. Aber natürlich hatte auch Bolan Unmengen an Arbeit in seine Karriere gesteckt. Langsam und stoßweise hatte er ein künstlerisches Ich aus einer Auswahl an Vorgängern und Einflüssen konstruiert. Erscheinungsbild und Realität haben für mich das gleiche Gewicht. Beiden gilt das gleiche Interesse und beide sind für mich von gleichem Wert.
Der Eindruck von Marc Bolan als Komet am Popfirmament ist das, was man eine wirkliche Illusion nennen könnte.
BOOGIE POET: MARC BOLAN UND T. REX
John’s Children Tyrannosaurus Rex T. Rex
Auf dem Höhepunkt von Marc Bolans Karriere brachte der Melody Maker ein Feature über das T.-Rex-Konzert im Birminghamer Odeon am 9. Juni 1972. Die Zeitschrift präsentierte Pro und Contra des Auftritts wie auch des Phänomens Bolan an sich. Für die Anti-Bolan-Fraktion schrieb Barry Fantoni, ein Comiczeichner und Jazzkritiker, der – ohne Zweifel satirisch – als »Klassik-Kritiker« des Melody Maker vorgestellt wurde. Polemisch beschrieb Fantoni seinen »Gesamteindruck, dass der Musik das vorher fast