Ihr mich auch. Pia Herzog

Ihr mich auch - Pia Herzog


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Und das bloß, weil er die Mülltonne wieder einräumen musste, die irgendwelche Randalierer umgeworfen haben.“

      Ich musste lachen. Doch schnell wurde ich wieder ernst. „Was hältst du von der ganzen Angelegenheit?“

      Rhys zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Aber so ganz koscher sind die nicht.“

      „Nein. Die Sache stinkt zum Himmel.“

      Wir gingen weiter und überlegten, was wir tun konnten. Ich war dafür, meiner Mutter den neuen Job so schnell wie möglich auszureden. Bestimmt hatte sie mit Kunzendorff eine Art Probezeit vereinbart. Wenn sie heute Abend kündigte, war das hoffentlich noch nicht zu spät.

      Rhys dagegen fand, wir sollten erst einmal die nächsten Tage abwarten und gucken, wie sich alles entwickelte. Vielleicht gab es für das Verhalten der Kunzendorffs eine ganz simple Erklärung. Ich zeigte ihm einen Vogel. Das glaubte er doch wohl selbst nicht!

      „Hey, Pinky!“ Drei Jungs aus der Parallelklasse drängelten sich an uns vorbei. Einer der Spinner blieb stehen und zog an meinen Haaren.

      „Geile Farbe, Alter!“, tönte er. Seine Kumpels lachten.

      Ich fuhr herum und wäre ihm fast ins Gesicht gesprungen. Da schob Rhys sich vor mich und nahm den Idioten ins Visier. Seine Augen sprühten Funken. „Lass Lu in Ruhe!“

      Mann, war ich in dem Moment stolz auf ihn!

      Der Parallelo wich zurück. „Man wird doch wohl mal testen dürfen, ob die Löckchen echt sind.“

      „Verpiss dich“, zischte ich und das tat er dann auch. Finster starrte ich ihm und seinen Kumpanen hinterher, während Rhys beschwichtigend den Arm um meine Schultern legte. Erst als sie verschwunden waren, hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich weitergehen konnte. Gemeinsam beschlossen wir, zu mir nach Hause zu fahren, um dort auf meine Mutter zu warten.

      Diese kam bedeutend früher heim, als wir gedacht hätten. Rhys und ich saßen gerade rittlings auf dem Dachgiebel unseres Hauses und versuchten, mit den Vorjahreskastanien in den Schornstein des Nachbarhauses zu werfen. In dem Augenblick, als ich meinen dritten Treffer landete, sah Rhys sie auf ihrem Fahrrad um die Ecke biegen.

      Meine Mutter wirkte aufgelöst. Siebzig Prozent der Haar­strähnen waren aus ihrem Zopf gerutscht. So wagte sie sich normaler­­weise nicht unter Leute. Irgendetwas musste passiert sein und ich ahnte, dass sich ihre Laune nicht bessern würde, wenn sie Rhys und mich auf dem Dach erwischte. In Windeseile rutschten wir runter und landeten in meinem Zimmer.

      „Hier“, sagte Rhys und drückte mir eine krumpelige Kastanie in die Hand. Danach hauchte er mir ein Küsschen auf die Wange und verschwand in den Flur. Zuerst war ich wie vom Donner gerührt, aber dann lächelte ich und ließ die Kastanie in meine Hosentasche gleiten.

      Im nächsten Moment erschien meine Mutter im Flur. Nicht nur ihre Frisur war wirr, sondern auch ihr Blick.

      „Was ist los, Mama?“

      Sie ignorierte mich, lief in die Küche und riss erst einmal alle Schränke auf. Verständnislos guckten Rhys und ich uns an.

      „Kann ich dir irgendwie helfen?“

      Daraufhin brach sie zusammen. Sie ließ sich auf einen Küchen­­stuhl sinken, verbarg das Gesicht in beiden Händen und fing an zu heulen. Dabei stammelte sie völlig unzusammenhängendes Zeug. „Polizei“, „blutüberströmt“ und „alles vermasselt“. Ihr Gestammel trug nicht dazu bei, dass ich ruhiger wurde. Im Gegenteil.

      Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Mama! Jetzt erzähl endlich, was passiert ist!“ Fast klang meine Stimme genauso hysterisch wie ihre.

      Rhys legte mir seine Hand auf den Arm. „Bleib locker, Lu.“

      Er hatte recht. Deshalb ließ ich mich ebenfalls auf einem Küchenstuhl nieder, atmete dreimal tief durch und zählte bis dreiundfünfzig. Danach erhob ich mich und setzte Wasser auf.

      Viele Tassen Tee und einen Gang zum Klo später hatten wir sie endlich so weit, dass sie uns die ganze Geschichte erzählen konnte.

      Viola Kunzendorff schien etwa in meinem Alter zu sein und hatte sich von Anfang an als Albtraum eines jeden Babysitters geoutet. Von der Kunzendorffschen Haushälterin, die sich klugerweise aus allen Erziehungsfragen raushielt, hatte meine Mutter erfahren, dass sie bereits die neunte Gouvernante im Hause Kunzendorff sei. Und zwar innerhalb der letzten vier Wochen.

      „Krass. Das macht einen Verschleiß von gut einem Drittel Kindermädchen pro Tag“, rechnete Rhys aus. Kein Wunder, dass der Vater inzwischen verzweifelt genug war, eine Studentin anzuheuern und ihr auch noch 120 Euro am Tag für den Job zu bieten!

      Viola habe sich von Anfang an allem verweigert, berichtete meine Mutter weiter. Das Mädchen wollte weder Frühstück noch Mittagessen und ließ sich auch nicht für Gesellschaftsspiele oder einen Spaziergang begeistern. Stattdessen habe sie sich im Badezimmer eingeschlossen. Als sie nach über einer Stunde noch immer da drin hockte, brachen meine Mutter und die Haushälterin die Tür auf. Weit und breit keine Viola. Dafür ein sperrangelweit offenes Fenster.

      In Panik rannte meine Mutter einmal ums ganze Haus. Nichts. Von Viola fehlte jede Spur. Sie durchkämmten die nähere Umgebung, guckten unter jeden Busch – ohne Erfolg. In dem Augenblick, als meine Mutter sich völlig aufgelöst dazu durchgerungen hatte, Kunzendorff anzurufen, klingelte es am Tor. Draußen standen zwei Polizisten mit Viola am Schlafittchen. Violas Gesicht war blutüberströmt. Meine Mutter bekam fast einen Herzinfarkt.

      Das Mädchen sei dabei aufgegriffen worden, auf dem Friedhof randaliert und einen Grabstein umgeworfen zu haben, erfuhr sie. Und im Übrigen sähe die Platzwunde an der Stirn, wo sie den Stein gerammt hatte, so aus, als müsse sie dringend genäht werden. Mit diesen Worten tippten die Polizisten sich an die Mütze und verschwanden.

      Ich explodierte. „Mit dem Kopf einen Grabstein umgeworfen? Die hat doch ’ne Vollmeise!“

      „Du musst sie verstehen. Sie hat einen schweren Unfall hinter sich.“

      „Na, toll! Und da haben sie ihr gleich das Hirn amputiert oder was?“

      „Nein, aber –“

      „Du hast hoffentlich gleich gekündigt!“

      Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Ich hab erst mal den Krankenwagen gerufen.“

      Und der war auch sofort angerauscht. Ohne großes Tamtam hatten die Sanitäter die tobende Viola eingesammelt und abtransportiert.

      Danach war meine Mutter geflohen.

      3

      Wie eine Raubkatze im Käfig tigerte ich durch unsere Küche. Diese blöde Zicke hatte das bestimmt mit Absicht gemacht, nur um meine Mutter gleich am ersten Tag wieder loszuwerden.

      „Warum kümmert sich nicht ihre eigene Mutter um diese Tussi?“

      „Weil sie bei dem Unfall ums Leben gekommen ist.“

      Ich hielt inne.

      „Autsch“, sagte Rhys. Er saß auf dem E-Herd und ließ die Beine baumeln.

      „Aha“, war das Einzige, was mir dazu einfiel, doch es machte mich nachdenklich. Blöde Sache, wenn die eigene Mutter bei einem Unfall stirbt, den man selbst überlebt hat. Allerdings war das noch lange kein Grund, sich so aufzuführen.

      „Ihr Vater hätte sie lieber zurück ins Internat schicken sollen“, knurrte ich.

      „Geht nicht. Zuerst muss der Arzt das Okay für die Ersatzteile geben.“

      Ich warf meine Stirn in Falten. „Ersatzteile?“

      „Bei dem Autounfall hat Viola einen Arm und ein Auge verloren.“

      Und das erzählte sie uns jetzt erst? Mit offenem Mund starrte ich meine Mutter an. Halbwaise und nur noch ein Arm und ein Auge – vorausgesetzt, dass Viola vorher von beidem zwei besessen


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