Maigret lässt sich Zeit. Georges Simenon
Juwelier sehr wertvolle Stücke kaufen können. Am Samstag ist ihm die Idee gekommen, die kostbarsten auszustellen. Am Donnerstag hat man die Scheibe eingeschlagen und die Schmuckstücke gestohlen.«
»Sie glauben …«
»Ich bin fast sicher, dass ein Fachmann die Juweliergeschäfte abklappert, wobei er regelmäßig das Viertel wechselt. Sobald er im Schaufenster eines günstig gelegenen Geschäfts wertvolle Stücke entdeckt, benachrichtigt er jemanden. Man lässt junge Leute aus Marseille oder anderswoher nach Paris kommen, denen man die Technik beigebracht hat und die der Polizei noch unbekannt sind. Ich habe schon zwei oder drei Mal eine Falle gestellt, indem ich die Juweliere gebeten habe, seltene Stücke auszustellen.«
»Aber die Bande ist nicht darauf reingefallen?«
Maigret schüttelte den Kopf und zündete seine Pfeife wieder an.
»Ich habe Geduld«, brummte er nur.
Der weniger geduldige Direktor verbarg seine Unzufriedenheit nicht.
»Und das geht jetzt schon …«, begann er.
»Seit zwanzig Jahren, Herr Direktor.«
Wenige Minuten später kehrte Maigret in sein Büro zurück. Er war froh, seine Ruhe und gute Laune bewahrt zu haben. Wieder einmal öffnete er die Tür zum Büro der Inspektoren, denn er hasste es, sie telefonisch zu sich zu rufen.
»Janvier!«
»Ich habe schon auf Sie gewartet, Chef. Gerade hat jemand angerufen …«
Er betrat Maigrets Büro und schloss die Tür hinter sich.
»Etwas Unerwartetes ist passiert. Manuel Palmari …«
»Sag nicht, er ist verschwunden!«
»Er ist ermordet worden. Jemand hat mehrmals auf ihn geschossen, während er in seinem Rollstuhl saß. Der Kommissar vom 17. Arrondissement ist am Tatort und hat die Staatsanwaltschaft benachrichtigt.«
»Und Aline?«
»Anscheinend hat sie die Polizei gerufen.«
»Fahren wir hin.«
Als er schon an der Tür war, kehrte Maigret noch einmal um und nahm eine zweite Pfeife vom Schreibtisch.
Als Janvier den kleinen schwarzen Wagen die vom Sonnenschein erleuchteten Champs-Élysées hinauffuhr, hatte Maigret noch immer dieses Lächeln im Gesicht, und seine Augen funkelten noch genauso wie am Morgen, als er aufgewacht war; sie spiegelten die gleiche unbeschwerte Stimmung, die er auch bei seiner Frau bemerkt hatte.
Dennoch war da in seinem Inneren, wenn nicht Trauer, so doch eine gewisse Nostalgie. Manuel Palmaris Tod würde sicher nicht von vielen bedauert werden, mit Ausnahme vielleicht von Aline, die seit Jahren mit ihm zusammenlebte und die er von der Straße aufgelesen hatte, sowie einiger armer Kerle, die ihm alles verdankten. Der ganze Rest würde sich anstelle einer Trauerrede mit einem vagen »Das war wohl zu erwarten …« begnügen.
Einmal hatte Manuel Maigret anvertraut, dass auch er in seinem Heimatdorf Ministrant gewesen war. Das Dorf sei so arm gewesen, dass die meisten jungen Leute, um dem Elend zu entkommen, von dort wegzogen, sobald sie fünfzehn Jahre alt waren. Er hatte sich in der Hafengegend von Toulon herumgetrieben, war später dort Barkeeper geworden und erkannte bald, dass Frauen ein Kapital darstellten, mit dem sich hohe Einnahmen erzielen ließen.
Hatte er ein oder mehrere Verbrechen auf dem Gewissen? Es war hier und da gemunkelt worden, aber man hatte ihm nie etwas nachweisen können, und eines Tages war Palmari Besitzer des Clou-Doré geworden.
Er hielt sich für gerissen, und tatsächlich war er geschickt genug gewesen, bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr kein einziges Mal verurteilt zu werden.
Zwar war er den Kugeln aus der Maschinenpistole nicht entkommen, aber auch im Rollstuhl genoss er sein Leben, dank seiner Bücher und Schallplatten, Fernsehen und Radio. Und Maigret glaubte sogar, dass er diese Aline, die ihn Papa nannte, noch leidenschaftlicher und zärtlicher liebte als je zuvor.
»Es ist falsch, dass du den Kommissar empfängst, Papa. Ich kenn doch die Polizei. Wegen denen habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Und der ist auch nicht besser als die anderen. Du wirst schon sehen, eines Tages wird er das, was er dir aus der Nase zieht, gegen dich verwenden.«
Es kam vor, dass das Mädchen vor Maigret ausspuckte, ehe sie würdevoll aus dem Zimmer stolzierte, wobei sie mit ihrem kleinen, straffen Hintern wackelte.
Noch keine zehn Tage war es her, seit Maigret zum letzten Mal in der Rue des Acacias gewesen war, und nun kehrte er schon wieder dorthin zurück, in dasselbe Haus, in dieselbe Wohnung, wo ihm einmal, als er am offenen Fenster stand, eine Eingebung gekommen war, die es ihm ermöglicht hatte, die Verbrechen des Zahnarztes gegenüber zu rekonstruieren.
Zwei Autos hielten vor dem Haus, und der vor der Tür stehende Polizist legte, als er Maigret erkannte, die Hand an die Mütze.
»Vierter Stock links«, murmelte er.
»Ich weiß.«
Der Polizeikommissar, ein Mann namens Clerdent, unterhielt sich im Wohnzimmer mit einem kleinen, dicken, sehr blonden Mann mit einer zarten Haut wie die eines Babys und unschuldig wirkenden blauen Augen.
»Guten Tag, Maigret.«
Da er sah, dass der Kommissar zögerte, dem anderen die Hand zu reichen, fügte er hinzu:
»Kennen Sie sich nicht? Kommissar Maigret … Untersuchungsrichter Ancelin …«
»Sehr erfreut, Herr Kommissar.«
»Ganz meinerseits, Herr Richter. Ich habe schon viel von Ihnen gehört, aber ich hatte noch nicht die Ehre, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
»Ich bin erst vor knapp fünf Monaten nach Paris versetzt worden. Vorher war ich lange in Lille.«
Er hatte eine Fistelstimme und wirkte trotz seines Bauchs jünger, als er war. Man hätte ihn für einen jener Studenten halten können, die ihr Studium absichtlich in die Länge ziehen, weil sie es nicht eilig haben, das Quartier Latin und das sorglose Leben hinter sich zu lassen. Sorglos natürlich nur für diejenigen, die das Glück eines vermögenden Papas haben.
Er war alles andere als elegant gekleidet, die Jacke zu eng, die Hose zu groß und an den Knien ausgebeult, und seine Schuhe hätten es nötig gehabt, geputzt zu werden.
Im Palais de Justice erzählte man, er habe sechs Kinder und zu Hause nichts zu sagen; sein altes Auto drohe jeden Augenblick auseinanderzufallen; und um über die Runden zu kommen, lebe er in einer Sozialwohnung in Antony.
»Ich habe, sofort nachdem ich im Palais de Justice angerufen hatte, die Staatsanwaltschaft informiert«, erklärte der Polizeikommissar.
»Ist sie schon hier?«
»Nein, aber sie muss jeden Moment kommen.«
»Wo ist Aline?«
»Die junge Frau, die mit dem Ermordeten zusammengelebt hat? Sie liegt auf ihrem Bett und weint. Eine Haushälterin ist bei ihr.«
»Was sagt sie?«
»Ich habe nicht viel aus ihr herausbekommen, aber in ihrem Zustand wollte ich ihr auch nicht allzu sehr zusetzen. Sie behauptet, dass sie um halb acht aufgestanden ist. Die Haushälterin kommt erst um zehn. Um acht hat Aline Palmari das Frühstück ans Bett gebracht und ihm dann bei seiner Morgentoilette geholfen.«
Maigret kannte die Routine hier. Seit dem Attentat, das aus ihm einen Invaliden gemacht hatte, traute sich Manuel nicht mehr in eine Badewanne. Er stellte sich unter die Dusche, und Aline seifte ihn ab und half ihm dann, sich anzuziehen.
»Wann ist sie aus dem Haus gegangen?«
»Woher wissen Sie, dass sie aus dem Haus gegangen ist?«
Maigret hätte es ganz sicher gewusst, wenn er die beiden in der Straße Wache stehenden Polizeibeamten gefragt hätte. Sie hatten ihn nicht angerufen und waren vermutlich sehr überrascht, erst