Maigret lässt sich Zeit. Georges Simenon

Maigret lässt sich Zeit - Georges  Simenon


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muss was?«

      »Nichts. Ich weiß es nicht. Warum musste er sterben? Warum musste man sich an ihm vergreifen? Als ob er nicht schon unglücklich genug gewesen wäre, mit nur noch einem Bein und gefangen in seinen vier Wänden.«

      »Er hatte Ihre Gesellschaft.«

      »Auch darunter hat er gelitten, denn er war eifersüchtig, obwohl er weiß Gott keinen Grund dazu hatte.«

      Maigret nahm ein goldenes Zigarettenetui, das auf dem Frisiertisch lag, und hielt es ihr geöffnet hin. Abwesend nahm sie eine Zigarette.

      »Sie sind um fünf nach zehn vom Einkaufen nach Hause gekommen, nicht wahr?«

      »Der Inspektor wird es Ihnen bestätigen.«

      »Es sei denn, Sie hätten ihn abgeschüttelt, wie Ihnen das hin und wieder gelungen ist.«

      »Heute nicht.«

      »Sie mussten also niemanden in Manuels Namen kontaktieren, niemandem einen Auftrag geben, niemanden anrufen.«

      Sie zuckte mit den Schultern und stieß gedankenlos den Rauch aus.

      »Sind Sie die Vordertreppe hochgegangen?«

      »Warum hätte ich die Hintertreppe benutzen sollen? Ich bin doch kein Dienstmädchen, oder?«

      »Sind Sie zunächst in die Küche gegangen?«

      »Wie immer, wenn ich vom Einkaufen zurückkomme.«

      »Kann ich mal sehen?«

      »Machen Sie diese Tür auf. Die Küche liegt auf der anderen Seite des Flurs.«

      Er warf nur einen kurzen Blick hinein. Die Haushälterin war gerade dabei, Kaffee zu kochen. Verschiedene Gemüsesorten lagen auf dem Tisch.

      »Haben Sie sich die Zeit genommen, Ihr Netz auszupacken?«

      »Ich glaube, nein.«

      »Sind Sie nicht sicher?«

      »Manches macht man ganz automatisch. Nach allem, was dann geschehen ist, kann ich mich kaum noch erinnern.«

      »Wie ich Sie kenne, sind Sie dann in das kleine Zimmer gegangen, um Manuel einen Kuss zu geben.«

      »Sie wissen genauso gut wie ich, was ich da entdeckt habe.«

      »Aber ich weiß nicht, was Sie dann getan haben.«

      »Ich glaube, zuerst habe ich geschrien. Instinktiv bin ich zu ihm gelaufen. Aber dann, als ich das ganze Blut gesehen habe, muss ich zugeben, dass ich zurückgewichen bin. Ich habe es nicht über mich gebracht, ihn noch einmal zu küssen. Armer Papa!«

      Tränen rollten über ihre Wangen, aber sie dachte nicht daran, sie abzuwischen.

      »Haben Sie die Pistole aufgehoben?«

      »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich es nicht getan habe. Da sehen Sie’s. Sie behaupten, dass Sie mir glauben, aber kaum sind wir allein, stellen Sie mir Fallen.«

      »Sie haben sie auch nicht berührt, auch nicht um sie abzuwischen?«

      »Ich habe nichts angefasst.«

      »Wann ist die Haushälterin gekommen?«

      »Ich weiß es nicht. Sie benutzt die Hintertreppe und stört uns nie, wenn wir im Eckzimmer sind.«

      »Haben Sie sie nicht kommen hören?«

      »In dem kleinen Zimmer kann man nichts hören.«

      »Verspätet sie sich manchmal?«

      »Oft. Sie hat einen kranken Sohn, um den sie sich kümmern muss, bevor sie zu uns kommt.«

      »Sie haben erst um Viertel nach zehn bei der Polizei angerufen. Warum? Und warum haben Sie nicht als Erstes daran gedacht, einen Arzt zu rufen?«

      »Sie haben Manuel doch selbst gesehen. Er war ganz offensichtlich tot.«

      »Was haben Sie in den zwanzig Minuten zwischen der Entdeckung der Leiche und Ihrem Anruf bei der Polizei getan? Ich gebe Ihnen den guten Rat, Aline: Antworten Sie nicht zu schnell. Ich kenne Sie. Sie haben mich oft belogen. Ich habe es Ihnen nie übel genommen, aber ich weiß nicht, ob der Untersuchungsrichter das genauso sieht. Und er ist es, der entscheidet, ob Sie verhaftet werden oder nicht.«

      Sie fand zum spöttischen Ton des ehemaligen Straßenmädchens zurück:

      »Das wäre ja wohl die Höhe! Mich verhaften? Und da soll man noch an Gerechtigkeit glauben! Glauben Sie noch daran, nach allem, was Sie erlebt haben? Sagen Sie schon!«

      Maigret zog es vor, die Frage nicht zu beantworten.

      »Hören Sie, Aline, diese zwanzig Minuten können eine bedeutende Rolle spielen. Manuel war ein vorsichtiger Mensch. Ich glaube nicht, dass er hier in der Wohnung kompromittierende Papiere oder Gegenstände aufbewahrt hat, und erst recht keinen wertvollen Schmuck oder größere Geldsummen.«

      »Was wollen Sie damit sagen?«

      »Haben Sie wirklich keine Ahnung? Wenn man eine Leiche entdeckt, wäre doch wohl der normale Reflex, einen Arzt oder die Polizei zu rufen.«

      »Dann scheine ich nicht die gleichen Reflexe zu haben wie normale Menschen.«

      »Sie sind vermutlich nicht zwanzig Minuten lang regungslos vor der Leiche stehen geblieben.«

      »Eine ganze Weile jedenfalls.«

      »Ohne etwas zu tun?«

      »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, ich habe als Erstes gebetet. Ich weiß, das ist verrückt, weil ich nicht an diesen verdammten lieben Gott glaube. Aber es gibt Momente, in denen es einen trotzdem überkommt. Ob das nun einen Sinn hat oder nicht, ich habe für seinen Seelenfrieden gebetet.«

      »Und dann?«

      »Bin ich hin und her gegangen.«

      »Wo?«

      »Von dem kleinen Zimmer in mein Schlafzimmer und zurück. Ich habe vor mich hin geredet. Ich habe mich gefühlt wie ein Tier im Käfig, wie eine Löwin, der man ihr Männchen und ihre Jungen genommen hat. Denn er war beides für mich: mein Mann und mein Kind.«

      Sie sprach leidenschaftlich und ging auch jetzt im Schlafzimmer auf und ab, als wollte sie ihre Handlungen vom Morgen rekonstruieren.

      »Das hat zwanzig Minuten gedauert?«

      »Vielleicht.«

      »Sie sind nicht auf die Idee gekommen, der Haushälterin zu sagen, was passiert war?«

      »Ich habe überhaupt nicht an sie gedacht. In keinem Augenblick ist mir bewusst geworden, dass sie in der Küche war.«

      »Sie haben die Wohnung nicht verlassen?«

      »Wohin hätte ich gehen sollen? Fragen Sie Ihre Männer.«

      »Gut, nehmen wir an, Sie sagen die Wahrheit.«

      »Das tue ich schon die ganze Zeit.«

      Gelegentlich konnte sie sich wie ein braves Mädchen benehmen. Vielleicht hatte sie einen guten Kern, und vielleicht war ihre Zuneigung zu Manuel echt. Aber wie bei so vielen anderen hatten ihre Erfahrungen in ihr das Bedürfnis hinterlassen, sich bissig und aggressiv zu zeigen.

      Wie konnte sie an das Gute, an die Gerechtigkeit glauben, wie Vertrauen in die Menschen haben, nach dem Leben, das sie geführt hatte, bevor sie Palmari begegnet war?

      »Dann machen wir jetzt ein kleines Experiment«, brummte Maigret und öffnete die Tür.

      »Moers, kommen Sie mal mit dem Paraffin?«

      Man hätte meinen können, Möbelpacker hätten in der Zwischenzeit die Wohnung in Beschlag genommen, und Janvier, der die beiden Inspektoren Baron und Vachet hochgeholt hatte, wusste nicht, wohin mit ihnen.

      »Einen Moment noch, Janvier. Moers, kommen Sie rein.«

      Moers


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