Aus den Akten der Agence O. Georges Simenon
es Simenon
Aus den Akten der Agence O
Sechs Fälle
Mit einem Nachwort von Daniel Kampa
Aus dem Französischen von Susanne Röckel
Kampa
Der Mann hinter dem Spiegel
I Wo eine junge Dame in den Armen des kräftigen Torrence in Ohnmacht fällt und wir die merkwürdige Hierarchie der Agence O kennenlernen
Elf Uhr morgens. Der dicke Nebel, in dem Paris erwacht ist, gehört zu der Sorte, die sich bekanntermaßen den ganzen Tag nicht auflösen wird. Die junge Dame hat ihr Taxi an der Rue du Faubourg Montmartre anhalten lassen und eilt in die Cité Bergère. Im Palace muss gerade eine Probe stattfinden, denn zwanzig oder dreißig Showgirls oder Statistinnen laufen draußen auf dem Gehsteig auf und ab.
Direkt gegenüber dem Bühneneingang des berühmten Musical-Theaters befindet sich ein Friseursalon, wo in kreischendem Lila der Schriftzug Chez Adolphe an der Fassade prangt. Rechts daneben eine kleine Tür, ein dunkler Flur und ein Treppenhaus, das von keinem Pförtner verteidigt wird. Ein Emailleschild mit vier Worten schwarz auf weiß: Agence O, dritter Stock links.
Die größten Bühnenstars sind durch das Portal auf der anderen Straßenseite gegangen, Politiker, königliche Herrschaften und Multimillionäre haben die Garderoben hinter der Bühne besucht. Wie viele dieser Persönlichkeiten sind an einem Morgen wie heute auch hier hineingeschlichen, mit hochgeschlagenen Mantelkragen und Hüten, die ihre Gesichter verbargen, die Stufen hinauf zur Agence O?
Im dritten Stock hält die junge Frau einen Moment inne und holt einen Spiegel aus ihrer Handtasche. Aber nicht, um ihr Make-up zu überprüfen. Im Gegenteil, als sie sich betrachtet, nimmt ihr Gesicht einen noch gehetzteren Ausdruck an. Sie klingelt. Langsam nähern sich Schritte. Die Tür wird von einem nichtssagenden Bürodiener geöffnet. Der Warteraum sieht schäbig aus. Eine Zeitung auf einem kleinen Tisch. Vermutlich hat der Bürodiener gerade darin gelesen.
»Ich möchte den Chef sprechen«, sagt sie aufgeregt. »Würden Sie ihm bitte sagen, dass es sehr dringend ist.«
Und sie betupft ihre Augen mit einem Taschentuch. Der Bürodiener muss schon viele Besucher wie sie gesehen haben, denn er geht ganz gemächlich auf eine Tür zu, verschwindet, taucht wenig später wieder auf und winkt sie herein.
Im nächsten Moment betritt die junge Frau das Büro von Joseph Torrence, Ex-Inspektor der Pariser Kriminalpolizei und Chef der Agence O, einer der berühmtesten Privatdetekteien der Welt.
»Bitte treten Sie ein, Mademoiselle«, sagt er. »Nehmen Sie Platz.«
Nichts könnte gewöhnlicher aussehen als dieses Büro, das Zeuge so vieler schrecklicher Geständnisse geworden ist. Nichts könnte beruhigender wirken als der große Torrence, ein unbekümmerter Riese von einem Mann, Ende vierzig, sehr gepflegt und gut genährt.
Das Fenster zur Cité Bergère hat Milchglasscheiben, an allen Wänden stehen Bücherregale und Aktenschränke, und hinter dem Mahagonischreibtisch, in Torrence’ Reichweite, befindet sich ein Safe, wie man ihn in Büros überall auf der Welt finden kann.
»Verzeihen Sie, Monsieur, wenn ich ein bisschen nervös bin. Sie werden es verstehen, wenn ich Sie eingeweiht habe. Wir sind hier doch unter uns, nicht wahr? Ich komme gerade aus La Rochelle. Was dort passiert ist …«
Sie hat sich nicht hingesetzt. Sie läuft auf und ab. Sie faltet ihr Taschentuch zusammen und wieder auseinander, offensichtlich in äußerster Aufregung, während Torrence fortfährt, mechanisch seine Pfeife zu stopfen.
In dem Moment geht die Tür auf. Ein großer rothaariger junger Mann, der anscheinend so schnell gewachsen ist, dass sein Anzug nicht Schritt halten konnte, betritt den Raum, bemerkt ihre Anwesenheit und stammelt:
»Oh, Verzeihung, Boss.«
»Was gibt’s denn, Émile?«
»Nichts … Ich … Ich hab was vergessen …«
Er nimmt irgendeine Akte aus dem Regal und ist in seiner Verlegenheit so tollpatschig, dass er beim Hinausgehen gegen den Türrahmen rempelt.
»Fahren Sie fort, Mademoiselle«, sagt Torrence.
»Ich weiß gar nicht mehr, wo ich stehen geblieben bin … Es war alles so tragisch, so unerwartet … Mein armer Vater …«
»Vielleicht fangen Sie damit an, mir zu erklären, wer Sie eigentlich sind?«
»Denise … Denise Étrillard aus La Rochelle. Mein Vater ist der Notar Étrillard. Er wird Sie heute Nachmittag aufsuchen. Er ist kurz nach mir abgefahren. Aber ich hatte solche Angst, dass ich dachte, es wäre besser …«
Direkt hinter dem banalen Büro von Torrence liegt noch ein kleineres, dunkleres Büro, vollgestopft mit einer höchst erstaunlichen Vielzahl von Dingen. Dort sitzt an einem gewöhnlichen, unlackierten Holztisch der junge Rothaarige, den der große Boss mit Émile angeredet hat. Er beugt sich vor. Er betätigt eine Art Schalter, und sofort kann er jedes Wort mithören, das nebenan gesprochen wird.
Ihm gegenüber befindet sich ein Spion. Von der anderen Seite würde niemand den Spion vermuten, denn er sieht aus wie ein normaler kleiner Spiegel zwischen den Regalen.
Émile beobachtet und lauscht teilnahmslos, mit unbewegten Augen hinter der großen Hornbrille und einer nicht angesteckten Zigarette zwischen den Lippen, fast wie einer dieser Weichensteller, die man manchmal in ihren Glaskästen thronen sieht.
»Denise Étrillard … Mein Vater ist der Notar Étrillard …«, sagt die junge Dame.
Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Émile ein schweres Verzeichnis hervorgeholt. Er geht die Liste der Notare unter E durch – Étienne … Étriveau … Aber kein Étrillard!
Er lauscht und beobachtet weiter. Diesmal sieht er in einem Telefonbuch für das Gebiet La Rochelle nach. Dort findet er einen Étrillard, oder besser gesagt die Witwe eines Étrillard, Fischhändlerin … Auf der anderen Seite des Spions fährt die Stimme fort:
»Ich fühle mich im Moment nicht in der Lage, es Ihnen ausführlich zu erklären … Mein Vater, der spätestens um vier Uhr hier sein wird, kann Ihnen das alles viel besser berichten als ich … Es war so schrecklich unerwartet. Das Einzige, worum ich Sie in der Zwischenzeit bitten möchte, ist, diese Dokumente, die ich noch retten konnte, in Ihrem Safe aufzubewahren.«
Émile greift zum Telefon vor ihm auf dem Tisch. Es klingelt in Torrence’ Büro. Torrence nimmt ab und hört zu.
»Frag sie, um wie viel Uhr sie angekommen ist …«
Währenddessen hat die junge Frau aus ihrer Handtasche einen eindrucksvollen gelben Umschlag gezogen, den fünf rote Wachssiegel noch feierlicher erscheinen lassen.
»Sind Sie gerade in Paris angekommen?«, fragt Torrence.
»Ja, ich habe das erste Taxi genommen und bin sofort hergekommen. Mein Vater hat gesagt …«
»… dass Sie sich an uns wenden sollen?«
»Wir haben gestern Abend einfach ruhig beisammengesessen, als wir plötzlich Geräusche aus seinem Büro hörten. Mein Vater nahm seinen Revolver. Wir konnten in der Dunkelheit einen Mann erkennen, aber er ist durch die Hintertür entkommen. Meinem Vater war sofort klar, dass jemand versucht hat, an diese Dokumente zu kommen. Aber er konnte La Rochelle nicht einfach so verlassen … Aus Sorge, dass sie zurückkommen würden, hat er mir diesen Umschlag anvertraut. Wenn er Ihnen die ganze Sache erklärt hat, werden Sie verstehen, warum ich so nervös bin und solche Angst habe. Diese Leute sind absolut skrupellos.«
Währenddessen ist der rothaarige Émile weiterhin wie ein gehorsamer Bürodiener seinen Aufgaben nachgegangen. Nachdem er das Verzeichnis französischer Notare und das Telefonbuch für Charente-Inférieur durchgesehen hat, sitzt er jetzt über dem Zugfahrplan, ohne jedoch die Frau länger als ein paar Sekunden aus den Augen zu lassen.
Wirklich ziemlich gut aussehend, diese junge Dame. Sie ist exakt so gekleidet, wie sich eine Tochter aus guter Familie vom Land kleiden sollte. Ihr graues, maßgeschneidertes Kostüm sitzt perfekt. Ihr