Aus den Akten der Agence O. Georges Simenon
einem Glas vom besten Cognac des Hauses abmildern.
Auf der anderen Seite des Raums hat die junge Frau aus La Rochelle ein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche gezogen und sich eine ägyptische Zigarette angesteckt. Über die leeren Tische zwischen ihnen hinweg sehen sie sich an. Auf dem Fußboden liegt immer noch etwas Sägemehl. Die Kellnerin hat mit dem Saubermachen angefangen; sie fegt den Boden und wechselt die Tischdecken. Aber die beiden sitzen ihr immer noch im Weg, und es ist bereits drei Uhr nachmittags.
Als Émile angekommen ist, hat er gar nicht erst irgendwelche Tricks versucht. Er ist direkt auf Barbet zugegangen, der in seiner Ecke saß und versucht hat, sich hinter einer Zeitung zu verstecken.
»In Ordnung!«, hat er gesagt. »Wie ist sie hergekommen?«
»Mit dem Taxi. Leider!«, hat Barbet geseufzt, denn wenn sie mit der Metro oder dem Bus gefahren oder nur ein kleines Stück gelaufen wäre, hätte er leicht herausfinden können, was sie in ihrer Tasche hat.
Unter anderem Namen, der der Polizei bestens bekannt ist, war Barbet früher als berühmter Taschendieb tätig. Er hatte sogar eine Art Schule in der Nähe der Porte Clignancourt in Montmartre, wo er eine Puppe mit Glöckchen benutzt hat, die die Schüler filzen mussten, ohne sie zum Klingeln zu bringen.
Aber jetzt ist er anständig geworden. Warum? Nun, das geht niemanden außer Émile und ihn etwas an.
»Hat sie irgendwelche Telefongespräche geführt? Hat sie jemanden getroffen?«
»Nein. Sie ist nur einmal zur Toilette gegangen. Ich bin ihr bis zur Tür gefolgt. Aber anstandshalber musste ich ja draußen warten.«
Sie guckt zu den beiden rüber, und Émile ist sicher, dass sie ihn erkannt hat. Wenn man bedenkt, dass sie ihn im Büro in der Cité Bergère nur äußerst kurz gesehen hat, muss sie demnach heute Morgen in der Menge vor dem Juwelier gestanden haben.
Was soll’s! Mit manchen Leuten hat es einfach keinen Sinn, Versteck zu spielen.
»Du kannst gehen, Barbet.«
Jetzt sitzen sie und er allein im Restaurant, zwischen ihnen die gesamte Länge des Raums, und hin und wieder scheint es fast so, als lächelten sie sich an. So sehr, dass eine der Kellnerinnen, die allmählich ungeduldig wird, zu ihrer Kollegin sagt:
»Ich möchte gern mal wissen, warum die sich so anstellen. Sollen sie die Sache doch einfach anpacken, um Himmels willen! Früher oder später landen die eh zusammen im Hotel …«
Um zehn nach drei fragt Émile mit der Art von Schüchternheit, die er in der Öffentlichkeit fast immer an den Tag legt, und mit einer übertriebenen Höflichkeit, die gut zu seinem Aussehen passt:
»Ach, bitte, Mademoiselle, könnte ich vielleicht noch einen Cognac bekommen?«
Auf der anderen Seite des Raums ruft die junge, angeblich aus La Rochelle stammende Frau ihrerseits:
»Würden Sie mir bitte ein paar Trauben bringen? Und einen Rumpunsch!«
»Angezündet?«
»Natürlich angezündet.«
Sie bekommt ihre Trauben mit einer leicht gebogenen Traubenschere. Die Kellnerin entfacht ein Streichholz, um den Rum anzuzünden, der eine dunkle Schicht im Glas bildet.
Dann zieht die Unbekannte, nachdem sie Émile einen langen Blick zugeworfen hat, demonstrativ ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, schneidet mit der Traubenschere eine Ecke ab und lässt das Stückchen Stoff in den brennenden Alkohol fallen.
»Was machen Sie denn da?«, platzt es aus der Kellnerin heraus.
»Nichts. Nur ein altes Hausrezept.«
Dabei lächelt sie Émile einladend an. Émile steht auf und durchquert das Restaurant.
»Darf ich?«, fragt er.
»Bitte sehr«, antwortet sie. »Mademoiselle! Bringen Sie das Glas von Monsieur an meinen Tisch …«
Und einen Moment später in der Küche grinst die Kellnerin über das ganze Gesicht.
»Was hab ich gesagt? Stellen sich dermaßen an! Und dann landen sie doch beieinander wie alle anderen auch. Jetzt aber mal los! Bloß raus hier! Sollen machen, was sie wollen, solange sie mir nicht beim Putzen im Weg rumsitzen …«
»Ich glaube nicht, dass wir die Ehre hatten, einander vorgestellt zu werden?«, sagt sie.
Und während sie es sagt, bläst sie einen Mundvoll Rauch in sein Gesicht. Er seinerseits hat das Gesicht etwas zur Seite gedreht, aus Rücksichtnahme, denn er denkt an die zwei Dutzend Schnecken, die förmlich in Knoblauch schwammen.
»Es sei denn«, antwortet er, »Sie sind wirklich die Tochter des Notars aus La Rochelle.«
Sie lacht und entspannt sich. Was soll’s! Auch ihr wird klar, dass sie es nicht länger mit Torrence zu tun hat und dass es zwecklos ist, weiter Spielchen zu treiben.
»Ist der Safe auch nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden?«
»Der Umschlag wurde rechtzeitig entfernt.«
»Ist Ihr Chef, Torrence, darauf gekommen?«
»Monsieur Torrence«, antwortet er im Vortragston, als läse er es aus einer Werbebroschüre vor, »ist ein Mann, der alles sieht, alles weiß und an alles denkt.«
»Und trotzdem nicht helle genug ist, um zu merken, wenn seine Taschen geleert werden. Ich frage mich, ob nicht Sie irgendwo im Raum versteckt waren und derjenige sind, der … Aber kommen wir zur Sache. Haben Sie vor, den ganzen Nachmittag hierzubleiben?«
»Ich bestehe nicht darauf …«
»Legen wir also die Karten auf den Tisch … Zuerst hat mich ihr bärtiger kleiner Kumpel beschattet. Dann haben Sie ihn abgelöst. Nach dem, was ich über die Agence O und ihre erfolgreich gelösten Fälle gehört habe, wäre es wohl kindisch zu glauben, dass ich Sie durch einen Hinterausgang oder durch Umsteigen in der Metro abhängen kann. Sie haben die erste Runde verloren, aber die zweite gewonnen.«
»Ich verstehe nicht …«, stotterte er, die Unschuld in Person, ganz das Bild eines geohrfeigten Mannes.
»Sie hatten das Taschentuch. Ich hab’s mir zurückgeholt. Zufälligerweise habe ich nichts dagegen, Ihnen zurückzugeben, was davon übrig ist. Das Wäschereizeichen hat sich in meinem Rumpunsch aufgelöst. Also, jetzt sind Sie an der Reihe, mich zu beschatten. Und deshalb kann ich nirgendwo hingehen. Was für ein Spaß!«
»Um ehrlich zu sein«, seufzt er, »finde ich das gar nicht so übel.«
»Sie vielleicht nicht«, sagt sie. »Mademoiselle! Die Rechnung bitte!«
»Beide zusammen?«
»Wie kommen Sie darauf? Der Monsieur kann seine selbst bezahlen.«
Was würde Torrence sagen, wenn er sie so sehen könnte! Nicht länger die junge Dame oder zumindest eine verdammt abgebrühte junge Dame. Dennoch hat sie eine gewisse Würde, etwas, das man bei Leuten, mit denen Polizisten und selbst Privatdetektive normalerweise zu tun haben, selten antrifft.
»Sind Sie manchmal gesprächiger?«, fragt sie.
»Niemals.«
»Schade. Wir halten die Kellnerinnen von ihrer Arbeit ab. Bezahlen Sie Ihre Rechnung, und dann lassen Sie uns gehen! Ich nehme an, die Richtung ist Ihnen egal? Unter diesen Umständen sollten wir zur Seine runterlaufen. Dort ist es ruhiger.«
Sie wissen nicht, dass ihre Kellnerin gerade eine Wette verloren hat. Sie hat geschworen, dass die beiden im erstbesten Stundenhotel in der Rue de la Bastille verschwinden würden. Stattdessen schlendern sie langsam den Boulevard Henri-IV hinunter.
»Sie möchten doch unbedingt wissen, wo ich hingehe, wo ich herkomme und für wen ich heute Morgen gearbeitet habe, stimmt’s?«, fragt sie. »Das ist es doch, oder? Sie sind mir gefolgt, und Sie werden mir auch weiter hinterherschnüffeln. Und ich für meinen Teil bin fest entschlossen, Ihnen keinerlei