Generation 68. Hardy Hanappi
Song erzählt werden, sie ist aber kein Narrativ, dazu ist der Moment, in dem sie aufblitzt, zu kurz. Was in der poetischen Literatur zu einem Problem wird – wie kann ein in einer Sprache verfasster Text adäquat in eine andere übersetzt werden –, das wird in der Beatmusik zum entscheidenden Vorteil: Da alles im Moment, besser (und für Physiker) gesagt im Momentum, bleibt, ist Übersetzung unnötig. Dieser ungeheure Vorteil birgt aber auch schon den Nachteil, der den 68ern bis heute nachhängt. Weil diese Weltsprache keine analytische Potenz erlaubte, blieb es bei einer unverstandenen Kulturrevolte. Daraus erklären sich manch krampfhafte Versuche in den 70er Jahren, dieser Kulturrevolte eine Theorie aufzupfropfen. Nicht ganz ohne Erfolg, doch bis heute – siehe die Occupy-Bewegung – immer noch ohne globalen Durchbruch.
III. Haare
Junge Männer mit langen Haaren haben Mitte der 60er Jahre das klassische Wertesystem der westlichen Nachkriegswelt auf den Kopf gestellt. Ein scheinbar unwichtiges Detail im äußeren Auftreten der männlichen Jugendlichen wurde über Nacht zur allseits beanstandeten Ausdrucksform gesellschaftlichen Widerstands. Was war geschehen?
Der Schlüsselbegriff zum Verständnis dieses Phänomens heißt »Disziplin«. Es handelt sich um den auf vielen Ebenen stattfindenden Aufstand gegen aufgezwungene Disziplin. Da ist zuallererst die militärische Disziplin, die Rekruten zu kurzgeschorenen Befehlsempfängern kastriert. Die symbolische Unterwerfung durch Uniform und Haarschnitt wurde nicht nur den in den Vietnamkrieg geschickten jungen Amerikanern staatlich verordnet, auch im Militärdienst anderer Länder wurde ähnlich verfahren. Strikte Hierarchien mit Willensbildung von oben (vom Führer) nach unten (bis zum einfachen Rekruten) lassen eigene Willensbildung nur mehr sehr beschränkt zu. Das letzte Glied in der Befehlskette ist ohnmächtig, und um ihm das auch symbolisch bewusst zu machen, wird ihm auch die Entscheidung über die eigene Haarlänge sofort entrissen. Haare sind Teil des eigenen Körpers. Ähnlich wie bei der Vorhaut des Penis erfolgt ihre Beschneidung als symbolischer Unterwerfungsakt, hier wie dort historisch oft als Reinlichkeitsnotwendigkeit getarnt.
Disziplinierung beginnt selbstverständlich schon lange vor dem Militärdienst, nämlich in der Familie. Die Familie steht Anfang der 60er Jahre meist noch recht eindeutig unter der Herrschaft des Vaters. Er hat Staatsmacht im Krieg erlebt. Da war ein Aufmucken gegen sie extrem ungesund. Ob deutscher Landser oder amerikanischer GI, selbst der Fabrikarbeiter war angehalten, eine ordnungsgemäße Frisur zur Schau zu tragen. Für den Familienvater ist seine Familie seine Truppe, da will man sich nicht für ein aus der Reihe fallendes Familienmitglied entschuldigen müssen. Hinzu kommt die Geschlechtertrennung: Die Knaben tragen kurzes Haar, die Mädchen langes Haar. »Ein Bub mit langem Haar sieht ja weibisch aus, verweichlicht, irgendwie homosexuell«, sagen die Väter. Zu sehr hat man sie in aller Regel selbst zum harten Mann gedemütigt, der jeden noch so sinnlosen Befehl einfach aushält. Das macht ihnen Druck, diese Ohnmacht innerhalb der Familie, in der nun sie herrschen, als Macht weiterzugeben. Das Symbol der Entwürdigung in Militär und Beruf wird den eigenen Söhnen aufoktroyiert: Kurzhaarschnitt. Vielleicht, so die gütige Seite der Väter, hilft es ihnen ja später, wenn sie sich früh an Demütigungen gewöhnen.
Zwischen Familie und Militär gibt es dann noch Schulzeit und Lehre. Selbstverständlich sollte die Schule künftige Staatsbürger formen, nicht nur durch Wissensvermittlung, sondern ebenso durch geistige und äußerliche Formung, Disziplinierung. In den oft noch nach Geschlecht getrennten Schulen herrschte bei den Knaben das gleiche Männerideal wie in den Familien. Der Widerstand tritt im Zuge der Sozialisation ein. Sich gegen Disziplinierung zu wehren ist das zentrale Ferment zur Herausbildung sozialer Identität. Was in einfältiger biologischer Dimension üblicherweise als Pubertät verniedlicht wird, ist de facto ein permanenter Prozess der Selbstfindung, der Selbstbehauptung. Umgekehrt ist es dann erst die gefundene, spröde Identität, die eine disziplinierte Konzentration auf selbstgewählte Themen ermöglicht. Genau dieses Wechselspiel ist der Humus individueller Kreativität. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen: langhaarige, oft kreativere Jugendliche versus angepasste, geschniegelte Ja-Sager – heutzutage typischerweise in Slim-fit-Anzügen. Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass dieses Oszillieren zwischen Disziplinlosigkeit und konzentrierter Disziplin, zwischen scheinbarer Faulheit und überraschendem Eifer, voraussetzt, dass es Jugendlichen überhaupt möglich ist, Phasen relativer Faulheit, Zeiträume der Muße zu haben. Dazu muss gesellschaftlicher Wohlstand ein gewisses Niveau erreicht haben. Ist das aber wie in den Nachkriegsgesellschaften der Fall, so wird dieser Prozess in der Regel während der Schulzeit zum ersten Mal so richtig gesellschaftlich.
Womit die jungen 68er ihre Elterngeneration überraschten, war die vehemente Verstärkung, die die Imitation widerständigen Verhaltens in Schulen und Universitäten erfuhr. Die unmittelbaren und mittelbaren Rollenmodelle, im eigenen lokalen Umfeld und neuerdings auch über den Fernseher zugänglich, wurden als Epizentren des selbstempfundenen Aufruhrs identifiziert und imitiert. Der so zur Welle werdende Widerstand wurde von den Schülern dann nach Hause, in die Familien getragen. Die Länge der Haare war das Maß des Erfolges dieses Widerstands. Gewiss, es war das nur ein Symbol, ein Verweis auf Persönlichkeit, manchmal auch nur ein Zeichen angestrebter Faulheit, doch das war die Ausnahme. Der Begriff »Generation« erlangte eine neue Gültigkeit, weil diese Solidarität der Jüngeren so stark wurde, dass sie in gesellschaftliche Dynamik umschlug. Dazu waren Fleiß und Einsatz für die Kulturrevolution nötig. Langes Haar war dabei das verbreitetste und sichtbarste aller Symbole. Gerade weil dieses Symbol so persönlich, so intim war, brachte es die Verbundenheit mit der revolutionären Sache des Widerstands so unmissverständlich zum Ausdruck. Zugleich blieb allerdings die konkrete Ausprägung von unbotmäßigem Handeln in so einem reinen Symbol unausgesprochen. Das machte sie schwerer konkret angreifbar und erzeugte umgekehrt eine große Breite argumentativer Angriffslinien, die sich alle unter dem sichtbar unspezifizierten Symbol versammeln konnten. Beim Kollaps der Bewegung sollte sich das dann als Nachteil einer schnell dahinschwindenden Tarnkappe, unter der manchmal wenig verborgen war, herausstellen. Mit der rasch gestutzten Haarpracht brach dann bei manchen auch jeder Wille zum Aufbegehren sehr schnell in sich zusammen.
Neben dem Bezug zum Begriff der Disziplin bildet aber auch der Bezug zum Begriff der Natürlichkeit einen Zugang zum Verständnis der Langhaarigen. Haare wachsen, das liegt in ihrer Natur. Sie zu schneiden oder gar abzurasieren ist wider die Natur. Selbstverständlich sind aber aus guter evolutionstheoretischer Perspektive die Menschen selbst ein Ergebnis der Natur. Den Begriff »Natur« als Gegensatz zu dem zu sehen, was Menschen tun, ist damit unsinnig. Was nach dieser sprachlichen Selbstzerstörung übrig bleibt, ist ein Gefühl. Das Gefühl, dass etwas im Beschneiden von Teilprozessen evolutionärer Entwicklung falsch läuft. Diese Einschätzung hat Tradition: Jean-Jaques Rousseau war wohl der berühmteste Philosoph, der das Unbehagen, das durch die einsetzende industrielle Revolution entstanden war, in eine Utopie »natürlicher« Harmonie verwandelte, in eine Vision eines Biotops für den Homo sapiens. Die Umsetzung von unbehaglichem Gefühl in »natürlichere«, unmittelbare Lebensumstände fand in der Kommunenbewegung der 68er ihren Ausdruck, da wurde die patriarchalische Familienordnung »naturalisiert«. Noch intimer gedacht, muss dann dem eigenen Körper seine »natürliche« Entwicklungstendenz zurückgegeben werden: Die Haare wachsen. Im Song I’ve Got A Feeling sangen die Beatles 1969: »Everybody had a good year, everybody let the hair down«. Die Beatles waren bei diesen Zeilen inspiriert von Bob Dylans The Mighty Quinn, der in der Fassung von Manfred Mann zum Welthit wurde. Dylans Song handelt von etwas großem Unbekannten, dem »Mighty Quinn«, von dem man sich viel erhofft – und bis es so weit ist (singen die Beatles), lassen sich alle die Haare wachsen. Lokale Hinwendung zum lokalen »Natürlichen« lag in der Luft und war sicher auch das Ergebnis großer Ungewissheit darüber, wie man die Veränderung der Welt denn nun angehen sollte. Ein Ausweg war, wie der spätere Nobelpreisträger Dylan in die Poesie zu flüchten. Doch da das sprachliche Talent nicht jedem in solcher Brillanz gegeben war, blieb immer noch der symbolische Akt der langen Haare.
Symbole der »Natürlichkeit«, die auf keinen konkret spezifizierten neuen Gesellschaftsentwurf verweisen, bleiben einfach im Raum stehen. Erst wenn sie zu einer Massenbewegung werden – das Lokale mittels Imitation zum Gesellschaftsphänomen heranwächst – stellt sich für das bestehende Gesellschaftssystem die Frage, wie man sie am besten verdaut. In den 60er Jahren setzte der Verdauungsprozess de facto sehr früh ein, er begleitete bereits