Jiftach und seine Tochter. Rüdiger Lux
in ein tiefes Unglück gestürzt.
– Für Jiftach wie auch für Agamemnon gibt es letztlich kein Zurück von der Erfüllung des Gelübdes.
– Sowohl Iphigenie als auch Jiftachs Tochter sind unverheiratete Jungfrauen, die sterben sollen, bevor sich ihr Leben in Ehe und Mutterschaft erfüllen konnte.
– Beide willigen schließlich mutig und entschlossen in ihre Opferung ein.
– Und beide weihen ihr Leben einer »höheren Sache«, dem militärischen Sieg über die Feinde ihrer Völker.
Angesichts dieser Übereinstimmungen zwischen der Iphigenie in der griechischen Tragödie und der Erzählung von Jiftach und seiner Tochter im Richterbuch ist die Rede von einer »hebräischen Iphigenie«, die die Erzähler des Richterbuches ihren Lesern präsentieren wollten, wenig verwunderlich. Und obwohl es in der literarischen Gestaltung des Stoffes sowie vor allem im Ausgang des Geschehens deutliche Unterschiede gibt, bleiben die Übereinstimmungen verblüffend und verlangen nach einer Erklärung. Das wirft allerdings nicht nur Fragen nach der Textentstehung und einer eventuellen Abhängigkeit beider Texte voneinander auf,14 sondern konfrontiert uns darüber hinaus mit dem Problem des Tragischen in der Bibel Israels.
2. DIE TRAGÖDIE UND DAS TRAGISCHE
Die Tragödie als literarische Gattung verdankt die Menschheit der griechischen Dichtkunst. Der Begriff »Tragödie« setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, den griechischen Nomina tragos (Bock) und ode (Lied). Ursprünglich bezeichnete er wohl die »Bocksgesänge«, die beim Opfer eines Bockes im Dionysoskult angestimmt wurden.15 Die attische Tragödie hat demnach kultische Wurzeln, die eine literarische Dramatisierung erfuhren. Vergleicht man allerdings die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter in Ri 10,6–12,7 mit der »Iphigenie in Aulis« des Euripides in formaler Hinsicht, dann sind die Unterschiede unübersehbar. Während sich in der Handlung der griechischen Tragödie mit einer gewissen Folgerichtigkeit ein Moment aus dem jeweils vorausgehenden ergibt, wirkt der Abschnitt aus dem Richterbuch, der uns über das Leben des Richters Jiftach und das Geschick seiner Tochter unterrichtet, eher wie die Zusammenstellung unterschiedlicher Episoden und Erzählfragmente, die nicht zwingend aufeinander bezogen worden sind. Den hohen literarischen Anforderungen, die Aristoteles in seiner Poetik an die »Tragödie« stellt (kompositorische Ausgewogenheit von Anfang, Mitte und Ende; Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der Handlungsführung),16 genügt Ri 10,6–12,7 jedenfalls nicht. Wenn die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter im Untertitel dieses Buches als »Eine biblische Tragödie« bezeichnet wird, dann ist dies nur in einem erweiterten, umgangssprachlichen Sinn des Begriffes »Tragödie« zu verstehen.
Daher wird im Folgenden zwischen der Tragödie als einer literarischen Gattung und dem Tragischen als einem Phänomen unterschieden, das mitunter wie ein dunkler Schatten über dem menschlichen Leben liegt und in ganz unterschiedlichen Textsorten begegnen kann. Ohne Zweifel stellen die attischen Tragödien des Dreigestirns Aischylos, Sophokles und Euripides Höhepunkte in der Darstellungskunst des Tragischen dar. Letzteres ist aber nicht an die literarische Gestalt der attischen Tragödie gebunden. Daraus ergibt sich die grundsätzlichere Frage, was eigentlich einen Text, ob Tragödie oder nicht, zu einem tragischen Text macht. Was ist das Tragische? Die Antworten, die in der Literatur- und Philosophiegeschichte auf diese Frage gegeben wurden, sind vielfältig. Und sie mündeten letztlich wie nahezu alle großen Menschheitsfragen in einer Paradoxie, die Peter Szondi eindrücklich beschrieben hat:
»Die Geschichte der Philosophie des Tragischen ist von Tragik selbst nicht frei. Sie gleicht dem Flug des Ikaros. Denn je näher das Denken dem generellen Begriff kommt, um so weniger haftet an ihm das Substantielle, dem es den Aufschwung verdankt. Auf der Höhe der Einsicht in die Struktur des Tragischen fällt es kraftlos in sich zusammen.«17
Es kann also immer nur um Annäherungen an das Phänomen des Tragischen gehen. Gerade weil sich das Tragische nicht fassen lässt, sondern in mancherlei Gestalt begegnet, bleibt die Aufgabe bestehen, ihm in seinen jeweiligen individuellen, literarischen und geschichtlichen Ausprägungen nachzuspüren. Denn das Tragische lässt sich nicht einfach aus den konkreten und vielfältigen Lebensvollzügen herausfiltern, in die es verwoben ist. Man tut daher gut daran, die einschlägigen Text- und Lebenswelten auf ihre tragischen Momente oder Aspekte hin in Blick zu nehmen.
Da es sich bei der Iphigenie in Aulis wie auch in der Erzählung über Jiftach und seine Tochter um antike Texte handelt, ist es sinnvoll, die Spur auf der Suche nach dem Tragischen zunächst auch bei einem antiken Denker aufzunehmen, um nicht unsere neuzeitlichen Vorstellungen von dem, was tragisch sei oder nicht, unbesehen in diese Textwelten einzutragen.
Der grundlegende Text, der die Debatte um die Gestalt und das Wesen der Tragödie bis in die Moderne hinein bestimmt, findet sich in der »Poetik« des Aristoteles.18 Für ihn besteht die »tragische Dichtung« aus Nachahmungen von Charakteren, menschlichen Handlungen und Leiderfahrungen, die der Lebenswirklichkeit entnommen sind.19 Sie geht auf einen »Mythos« zurück, der »das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist«.20 Mit dem Begriff des Mythos ist dabei ganz schlicht das gemeint, wovon die »Rede«21 ist: Eine »Zusammenfügung von Geschehnissen« und Handlungen,22 die das Leben schreibt und die in der Tragödie aufgegriffen und gestaltet werden. Wir würden heute vom »Plot« oder von der »Story« sprechen, die ihr zugrunde liegt. Diese Storys/Mythen liegen in der Regel im reichen Schatz der Volksüberlieferung bereit, in kurzen Erzählfragmenten, Fabeln, Sagen und Heroengeschichten, die sich zunächst nur von Mund zu Mund verbreitet haben und ihren Weg durch die Jahrhunderte nahmen, bevor sie verschriftet und in literarischen Texten verarbeitet wurden.
Im Mittelpunkt tragischer Storys steht das Leiden ihrer Helden. Sie werden Opfer ihres eigenen Tuns sowie widriger Lebensumstände, in die sie gerieten. »Die tragische Dichtung ruht« demnach – wie Walter Benjamin zugespitzt formulierte – »auf der Opferidee.«23 Da aber nicht jedes Leid, das Menschen trifft, und jedes Geschehen, dessen Opfer sie werden, als tragisch empfunden wird, stellt sich sofort erneut die Frage, was menschliche Opfer- und Leiderfahrungen zu einem tragischen Leiden machen. Den Schlüssel für die Beantwortung dieser Frage hat Aristoteles zunächst in den Wirkungen und Affekten gesucht, die die Tragödien beim Publikum auslösen. Es geht in ihnen um die Nachahmungen der Protagonisten eines Geschehens, das
»Jammer (eleos) und Schaudern (phobos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.«24
Jammer und Schaudern stellen sich aber immer dann ein, wenn das erzählte Geschehen einen vorhersehbaren oder auch unvorhersehbaren »Handlungsumschwung« (peripeteia) vom Glück ins Unglück, von Freundschaft in Feindschaft, Liebe in Hass oder Heil in Unheil aufweist.25 Diese Peripetien können auf einen leichtfertigschuldhaften oder auch unverschuldeten »Fehler/Irrtum« (hamartia) des jeweiligen Helden zurückgehen,26 der ihn in eine aussichtslose Lage geraten lässt, in der er kaum noch die Wahl zwischen Richtig und Falsch hat. Was immer er tut, führt