Jiftach und seine Tochter. Rüdiger Lux
geht es nicht um Tragik, sondern um totale Tora-Vergessenheit«.54 Ganz spontan möchte man erwidern: Was, wenn gerade in dieser Tora-Vergessenheit nicht nur die Tragik Jiftachs besteht, sondern darüber hinaus auch die ganz Israels in der Richter- und Königszeit?
Die Frage, ob das Tragische eine angemessene theologische Kategorie der Deutung einschlägiger Textwelten der Bibel Israels darstellt, bleibt umstritten. So hatte bereits Kornelis Heiko Miskotte die Freude zum Grundton des alttestamentlichen Daseinsverständnisses ausgerufen und unmissverständlich dekretiert: »Das tragische Lebensgefühl ist dem Alten Testament fremd.«55 Und Karl Barth hat darüber hinaus aus gesamtbiblischer Perspektive vor einer geradezu »übermütigen Tragik« gewarnt. Gottes Barmherzigkeit in Jesus Christus
»zerbricht gerade das, was man als die Tragik menschlicher Existenz so ernst zu nehmen pflegt. Es gibt etwas Ernsteres als sie, nämlich dies, daß unsere Not – und zwar gerade die Not unserer Sünde und Schuld – in Freiheit aufgenommen, in Gott selber ist und dort erst, nur dort, wirkliche Not ist. Daß dem so ist, das ist die Barmherzigkeit Gottes.«56
Diese Stimmen, die dem Tragischen in der Bibel mit Skepsis begegnen und eine Überwindung der tragischen Welten der griechischen Antike durch das alt- und neutestamentliche Gottes- und Menschenverständnis postulieren, sind ernst zu nehmen. Ob sie allerdings das letzte Wort zur Sache sein können, das wäre an den biblischen Texten selbst zu überprüfen. Daher wird uns die Frage nach dem Tragischen in unserem Gang durch die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter begleiten.
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1 L. BAECK, Werke 6, 55.
2 D. EBENER, EURIPIDES, Iphigenie in Aulis (IA), 8.
3 S. B. ZIMMERMANN, Euripides, 284f.
4 D. EBENER, EURIPIDES, Iphigenie bei den Taurern (IT), 249, 17–21.
5 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 39, 442–445; 43, 511f.536f.
6 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 77, 1185–1193.
7 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 79, 1209f.
8 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 79, 1218 f.; 81, 1249–1252.
9 ARISTOTELES, Poetik 15, 49. Vgl. dazu H. FLASHAR, Aristoteles, 58.
10 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 97, 1551–1556 u. 1560–1562.
11 H. STROM, Nachwort, 79.
12 Siehe dazu u. a. W. BAUMGARTNER, Sagenbeziehungen, 152, A. KUNZ-LÜBCKE, Interkulturell lesen, 263ff. u. M. BAUKS, Tochter, 64ff.
13 So TH. RÖMER, Sacrifice, 36ff.
14 Siehe dazu ausführlich S. 50ff.
15 Siehe dazu B. ZIMMERMANN, Tragödie, 13, und W. BURKERT, Tragödie, 16.
16 Vgl. dazu ARISTOTELES, Poetik, 23.77.
17 P. SZONDI, Versuch, 53.
18 Wichtiges dazu bei L. RATSCHOW, Frau, 32–40.
19 ARISTOTELES, Poetik 1, 5.
20 ARISTOTELES, Poetik 6, 23.
21 Das griechische Wort mythos hat hier die umfassende Bedeutung von »Wort/Rede/Geschichte/Erzählung« und entspricht dem lateinischen fabula.
22 ARISTOTELES, Poetik 6, 23.
23 So das klarsichtige Votum von W. BENJAMIN, Ursprung, 87.
24 ARISTOTELES, Poetik 6, 19.
25 ARISTOTELES, Poetik 11, 35.
26 ARISTOTELES, Poetik 13, 39. Das Nomen hamartia kennzeichnet hier weniger einen moralischen Mangel an Charakter als vielmehr die menschliche Fehlbarkeit, vor der keiner gefeit ist.
27 R. GRUMACH (Hg.), Kanzler, 127.
28 ARISTOTELES, Poetik 14, 45.
29 ARISTOTELES, Poetik 13, 39.
30 W. SCHADEWALDT, Tragödie, 24f.
31 ARISTOTELES, Poetik 15, 47.
32 W. SCHADEWALDT, Tragödie, 55 f.
33 W. SCHADEWALDT, Tragödie, 58.
34 Vgl. z. B. M. RASCHE, Phänomen, 22.
35 P. SZONDI, Versuch, 60.
36 Siehe die Beschreibung des Tragischen durch F. ROSENZWEIG, Stern, 83–87.
37 Siehe S. 24.
38 In diesem Bild hat E. BLOCH (Prinzip III, 1372ff.) das Tragische verdichtet.