Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Thomas Meyer

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) - Thomas  Meyer


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Gebrauch eines historischen Krankheitsbegriffes ist nicht nur für die ALS typisch, sondern betrifft die gesamte Medizin. Beispiele für weitgenutzte historische Begriffe sind »Multiple Sklerose«, »Krebs«, »Arteriosklerose«, »Schlaganfall« und zahlreiche Bezeichnungen anderer schwerer Erkrankungen.

      3 Was bedeutet »Motoneuron-Erkrankung«?

      Der Begriff »Motoneuron-Erkrankung« lässt sich als »Erkrankung der motorischen Nervenzellen« übersetzen. »Moto« steht für das Wort »motorisch«, während das »Neuron« der medizinische Begriff für »Nervenzelle« darstellt. Motoneuron-Erkrankungen sind damit die Gesamtheit aller Erkrankungen, bei denen motorische Nervenzellen abgebaut werden Bei Motoneuronen-Erkrankungen können die folgenden Symptome auftreten: unvollständige Lähmungen (»Parese« genannt), vollständige Lähmungen (»Plegie« oder »Paralyse« genannt), Muskelschwund (»Myatrophie« genannt) oder eine unkontrollierte Muskelanspannung, die sich als Muskelsteifigkeit darstellt (»Spastik« genannt). Die ALS ist die häufigste Motoneuron-Erkrankung. Neben der ALS gehören auch andere Erkrankungen dazu, die diagnostische und prognostische Unterschiede zur ALS-Erkrankung aufweisen. Zur Gruppe der Motoneuron-Erkrankungen, die keine ALS verkörpern, gehören die Spinale Muskelatrophie (SMA, image Frage 60), die Spinobulbäre Muskelatrophie (SBMA; auch Kennedy-Erkrankung genannt, image Frage 61) sowie die Spastische Spinalparalyse (SSP, image Frage 65), die unter bestimmten Umständen auch als Hereditäre Spastische Paraparese (HSP) bezeichnet wird. Die Symptomverteilung, der Schweregrad und die Dynamik der Symptomentwicklung zwischen diesen Erkrankungen sind sehr unterschiedlich. Für einen Spezialisten ist die Unterscheidung zwischen diesen Diagnosen möglich. In bestimmten Kliniken wird der Begriff der »Motoneuron-Erkrankung« auch synonym für die ALS benutzt, da sie die häufigste Motoneuron-Erkrankung des Erwachsenenalters darstellt. In Großbritannien und britisch-geprägten Gesundheitssystemen wird der Begriff Motoneuron-Erkrankung (Motor Neuron Disease; MND) anstelle des Wortes der ALS benutzt.

      4 Seit wann ist die ALS bekannt?

      Die ALS wurde erstmalig im Jahr 1874 vom französischen Neurologen Jean-Martin Charcot am Pariser Universitätskrankenhaus Hôpital de la Salpêtrière beschrieben. Er bezeichnete die Erkrankung als »Amyotrophe Lateralsklerose«. Bereits im Jahr 1850 hat der französische Neurologe François Aran die progressive Muskelatrophie (PMA, image Frage 38) entdeckt. Zum damaligen Zeitpunkt ging man davon aus, dass die PMA und ALS unterschiedliche Erkrankungen seien. Heute ist bekannt, dass die PMA eine spezifische Variante der ALS darstellt. Damit wurde die ALS im weiteren Sinne erstmalig von Aran bereits 1850 charakterisiert. Die Namensgebung, die bis heute Gültigkeit hat, folgte dann 24 Jahre später durch Charcot.

      5 Wer bekommt ALS?

      Die ALS ist eine schicksalshafte Erkrankung, für die nach dem heutigen Stand der Medizin keine äußeren Ursachen bekannt sind. Damit ist die ALS in jedem Fall ohne »Eigenverschulden« zu betrachten. Bestimmte Erkrankungen sind mit einem Risikoverhalten verbunden (z. B. bestimmte Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Rauchen, Alkoholgenuss, körperliche Inaktivität usw.). Diese beeinflussbaren Risikofaktoren liegen bei der ALS nicht vor. Daher ist der Begriff der »Schicksalshaftigkeit« der ALS gerechtfertigt. Die Mehrheit der Betroffenen war vor der Diagnose einer ALS gesund und ohne wesentliche Vorerkrankungen. Die ALS tritt daher ohne Vorboten auf. Die Mehrheit der Betroffenen erkrankt im Alter zwischen 50 und 60 Lebensjahren. Männer und Frauen sind fast gleichermaßen betroffen: das männliche Geschlecht überwiegt geringgradig (1,5 : 1). Verschiedene Studien haben versucht, ein bestimmtes Profil von Menschen mit ALS zu identifizieren. Verschiedene Untersuchungsserien zeigen, dass Menschen mit ALS vor Erkrankungsbeginn schlanker und sportlicher sind als entsprechende Vergleichsgruppen. Weitere Studien haben nachgewiesen, dass Menschen mit ALS – in einer statistischen Betrachtung – einen höheren Bildungsstatus und ein überdurchschnittliches Einkommen aufweisen. Für viele Studienergebnisse zu Persönlichkeitsmerkmalen von ALS-Patienten liegen auch gegenteilige Untersuchungsergebnisse vor. Insgesamt lässt sich damit kein »Persönlichkeitsprofil« für Menschen mit ALS festlegen. Insgesamt kann grundsätzlich jeder Mensch im Verlauf des Lebens an ALS erkranken. Das Risiko für eine ALS ist erhöht, wenn eine familiäre (erbliche) Form der ALS vorliegt (image Frage 130).

      6 Warum ich?

      Die Frage »Warum hat mich die ALS getroffen?« beschäftigt fast alle Menschen mit ALS. In dieser Frage liegt die Vermutung oder Sorge, dass möglicherweise ein Ereignis in der eigenen Biografie als Krankheitsursache zugrunde liegt, das einem bisher nicht bewusst war. Die Sorge oder Vermutung ist jedoch medizinisch nicht begründet: Für die ALS liegen auch keine Ursachenfaktoren vor, die an einen Lebensstil oder andere biografische Ereignisse gebunden sind. Bestimmte Berufe, Ernährungsgewohnheiten, die Belastung mit Toxinen (Holzschutzmittel, Farben, Lacke und andere Chemikalien), Fremdkörper (Zahnfüllungen, Implantate) oder Infektionen (Borreliose) sind keine Ursachenfaktoren der ALS. Die Frage »Warum ich?« lässt sich vereinfacht so beantworten, dass die ALS »zufällig« entsteht. Hinter diesem »Zufall« sind bisher unverstandene molekulare Fehler zu vermuten, die zu einer schädlichen Ereignisabfolge auf zellulärer Ebene führen und die Degeneration der motorischen Nervenzellen einleiten. Zu einem geringeren Teil der ALS-Patienten sind bereits heute genetische Faktoren (Mutationen in »ALS-Genen«) bekannt, die von vorangehenden Generationen übertragen wurden oder in der eigenen Embryonalentwicklung entstanden sind (image Frage 130).

      II Fragen zu Vorkommen und Häufigkeit der ALS

      7 Wie viele Menschen in Deutschland leiden an ALS?

      In Deutschland sind vermutlich 6.000–8.000 Menschen an ALS erkrankt. Diese Zahl ist eine Annahme, die auf Studienergebnisse zur Häufigkeit der ALS in regionalen oder internationalen Patientenregistern (z. B. dem Schwäbischen oder dem Niederländischen ALS-Register) beruht. Die exakte Zahl der Betroffenen ist in Deutschland nicht bekannt, da bisher kein bundesweites ALS-Register besteht. Die Studienlage in den bisherigen Registern zeigte eine Häufigkeit von 8–10 Betroffenen pro 100.000 Einwohner. Unter der Annahme, dass die Häufigkeitsverteilung der ALS in der Region Schaben oder den Niederlanden sowie Deutschland weitgehend übereinstimmen, ist bei 80 Millionen Einwohnern in unserem Land von der genannten Zahl von etwa 8.000 Betroffenen auszugehen. Die Anzahl der Erkrankten pro 100.000 Einwohner wird als ALS-Prävalenz bezeichnet. Davon zu unterscheiden ist die ALS-Inzidenz. Diese Zahl beschreibt die Anzahl der Neuerkrankungen pro Jahr pro 100.000 Einwohner. Bei der ALS ist von etwa 1,5–2 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner auszugehen. Damit treten in Deutschland 1.200–1.600 Neuerkrankungen pro Jahr auf. Diese Zahl entspricht auch der Anzahl der jährlichen Todesfälle infolge der ALS in Deutschland.

      8 Nach welchen Kriterien ist die ALS eine seltene Erkrankung?

      Die ALS erfüllt die formalen Kriterien der Europäischen Union (EU) einer »seltenen Erkrankung«, die mit einer Häufigkeit von weniger als 50 Betroffenen pro 100.000 Einwohner definiert ist. Die ALS tritt mit einer Häufigkeit von 10 pro 100.000 Einwohnern auf, sodass die genannten Kriterien einer seltenen Erkrankung erfüllt sind. Diese formale Einordnung hat vor allem für die Entwicklung und Zulassung von Medikamenten eine Bedeutung, die in der EU und den USA durch


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