Pächter der Zeit. Thomas Flanagan

Pächter der Zeit - Thomas Flanagan


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sollte, niedergeschlagen werden würde. Vor allem, nachdem die Armee gekommen war. Unsere Häuser, die Häuser des Landadels, lagen verstreut, wissen Sie. Die Armee konnte uns keinen wirklichen Schutz bieten, und die Polizei auch nicht. Isabel – Lady Ardmor, Toms Mutter, meinte in der einen Minute, die Dienerschaft sollte bewaffnet werden, und in der nächsten, daß auf sie alle kein Verlaß sei.«

      »Und wäre Verlaß auf sie gewesen?« fragte Prentiss.

      »Ach, ich glaube schon«, antwortete Forrester. »Jedenfalls sind nur zwei von ihnen mit den Rebellen losgezogen. Einer der Untergärtner und der Sohn des Obergärtners. Dinny – ich glaube, so hieß der Junge – mußte sechs Monate im Gefängnis von Richmond absitzen und kam dann nach Hause. Isabel hat ihn wieder bei seinem Vater arbeiten lassen. Die Zeiten waren eben so.«

      Er war ein großer Mann, hager gebaut, seine langen Beine streckte er zum Feuer hin aus. Die wettergegerbten Stiefel waren wunderbar poliert.

      »Die Zeiten waren eben so«, wiederholte Prentiss.

      Er konnte Dinny fast vor sich sehen, ein geschlagener Held, nervöse Finger drehten die Mütze hin und her, ein dummes, unsicheres Lächeln.

      »Hier jedenfalls«, fuhr Forrester fort. »In Ardmor. Nicht überall. Nach dem Aufstand wurden einige von den Beteiligten von ihrem Pachtland vertrieben. Die kleineren Grundbesitzer waren außer sich vor Wut. Nolan hatte ihnen ihre Waffen gestohlen, deshalb war Nolan eine Zielscheibe für ihren Zorn. Agitator aus den USA, der die loyalen Bauern aufwiegelt. Und im nächsten Atemzug verfluchten sie jeden irischen Katholiken als Verräter. Ein temperamentvoller Haufen, der Landadel von Cork. Kennen Sie sie überhaupt?«

      Prentiss schüttelte den Kopf. Aber er konnte sie sich vorstellen, wie er sich vor wenigen Minuten Dinny vorgestellt hatte. Rote Wangen und cholerische Stimme.

      »Eines Nachts«, erzählte Forrester, »nach dem Waffenraub, aber vor dem Aufstand, gab es eine Versammlung bei Christopher Pierson, bei Gott, nein, es war bei Johnny Boyle, in Brierly Lodge. Das heißt, 1867 gehörte Brierly Lodge noch Johnny Boyle. Als Nolan ein Vierteljahrhundert später zurückkehrte, um seinen Mord zu begehen, war Johnny längst nicht mehr hier. Hatte alles verkauft und war lange tot, zweifellos, oder lebte irgendwo in London in einer Mietwohnung. Das war aber alles nur Zufall.« Er beugte sich vor und warf seine Zigarette ins Feuer.

      »Als Ned Nolan zurückkehrte.« Erst MacMahon und jetzt Forrester. Als ob der Aufstand nicht an dem Winterabend in Clonbrony Wood geendet hätte!

      »Ich war in jener Nacht da«, sagte Forrester. »Ich vertrat gewissermaßen die Familie, in Toms Abwesenheit. In den alten Zeiten, als Toms Vater noch lebte, hätte die Versammlung hier im Schloß stattgefunden. Aber während Johnny in Brierly Lodge wohnte, war es eher ein Club als ein Jagdhaus. Johnny war Witwer, seine beiden Söhne dienten in der Armee. Er war ein anständiger Bursche, selber früher in der Armee gewesen. Er konnte nicht begreifen, warum die Regierung alles so weit hatte kommen lassen, warum sie die Fenierzirkel nicht zerschlagen und die Anführer ins Gefängnis gesteckt hatte. Das begriff aber auch sonst niemand von uns. Und der Waffenraub hatte uns allen einen Schrecken versetzt. Auch Brierly Lodge war ausgeplündert worden, und Johnny war mit der Pistole bedroht worden. Sie hatten seine Gewehre und Schrotflinten und sogar seinen Armeerevolver genommen.«

      Über dem Kamin hing ein Portrait: Eine Frau, schlank, in einem schwarzen Kleid. Prentiss saß zu dicht beim Feuer, um es richtig sehen zu können. Es war perspektivisch gezeichnet und fast eine Abstraktion; schwarz, elfenbein, ein paar Tupfer Zinnoberrot, der helle Hintergrund vage in warmen Pfirsichtönen. Während Forrester sprach, ließ Prentiss seine Augen auf diesem Bild ruhen.

      »Das gehört doch sicher zu den Dingen, die Sie wissen müssen?« fragte Forrester höflich, mit leicht trockenem Unterton. »Der Aufstand vom Standpunkt des Großgrundbesitzers aus gesehen?«

      »Das stimmt«, antwortete Prentiss rasch, als ob Forrester ihn bei irgendeiner Art schlechten Benehmens ertappt hätte.

      »Mehr kann ich Ihnen auch nicht erzählen, fürchte ich. Als die Unruhen kamen, die Schlacht von Kilpeder, wie das jetzt heißt – in späteren Jahren war ich sicher, daß wir alles hier im Schloß gehört hätten; die Schüsse, den Angriff auf die Polizeiwache. Ich habe es immer sehr lebhaft beschrieben. Isabel und ich standen dort draußen auf der Terrasse, blickten voller Besorgnis auf die Stadt, die Dienerschaft war außer sich vor Entsetzen. Und vielleicht war es wirklich so. Die Schüsse müssen wir auf jeden Fall gehört haben. Es war ein wütendes Gefecht. Aber es ist alles so lange her.«

      In Prentiss’ Vorstellung standen sie nebeneinander auf der winterlichen Terrasse; eine Frau mittleren Alters und ihr Neffe. Vor ihnen abgestufte Rasenflächen, ein von blattlosen Weiden eingerahmter See, schimmerndes Eis. Hinter den Domänenmauern, vielleicht außer Sichtweite, obwohl das Schloß auf einer leichten Anhöhe stand, marschierten Gruppen von Männern durch die Straße auf die Polizeiwache zu. Schüsse und vielleicht Rufen, ein Schrei. Aber die beobachtenden Gestalten brauchten nur wieder ins Morgenzimmer zurück zu gehen, und vor dem Kamin erwarteten sie Tee und ein Teller mit gebuttertem Toast.

      Aber etwas machte Prentiss zu schaffen, störte das Bild, das er in seiner Vorstellung sah, und plötzlich ging ihm auf, was es war.

      »Es hat geschneit«, sagte er. »Das Wetter war bitterkalt, und es schneite heftig.«

      »Ja«, antwortete Forrester. »Der Schnee der Fenier, wie die Landbevölkerung es später genannt hat.« Und dann lächelte er, als ihm die Bedeutung von Prentiss’ Worten aufging. Es war ein entzücktes Lächeln, und es hellte sein Gesicht auf. Er nickte Prentiss zu, und endlich schienen sie die Höflichkeit zu überwinden und einander zu berühren. »Ein überaus heftiger Schneefall. Es hatte schon am Vorabend angefangen, und während der Nacht und bis weit in den Tag hinein schneite es weiter. Dieser Schnee hat den Aufstand zum Mißerfolg werden lassen, überall im Süden, sagten die Leute, in Munster wie in Leinster. Außerdem wehte ein ziemlich scharfer Wind, und später verdichtete sich der Schneefall noch beträchtlich, und die Gebirgspässe waren abgeriegelt.«

      Prentiss wartete.

      »Auf der Terrasse muß Schnee gelegen haben, und wir konnten nur bis zum nächstgelegenen Rasen sehen. Ich erinnere mich sehr gut an den Schnee. Ich erinnere mich, ich glaube mich zu erinnern, daß ich an diesem Fenster dort stand, genau an diesem, und ins Schneetreiben hinausblickte. Aber in meiner anderen Erinnerung, wo Isabel und ich auf der Terrasse stehen und in Richtung der Schüsse, der Schlacht von Kilpeder blicken, gibt es keinen Schnee. In dieser Erinnerung liegen auf den Steinplatten einige trockene Platanenblätter. Isabel trägt eine kurze Jacke, braun oder schwarz, mit Pelzkragen. Ihre Hand ruht auf meinem Unterarm. Durch klare Luft sehe ich auf Wälder, nackte Zweige, den See.«

      Eine große Begabung, mit einem oder zwei Strichen Szenen lebendig werden zu lassen, hatte MacMahon über Forrester gesagt.

      »Nun, Mr. Prentiss«, sagte Forrester. »Nun ja, Geschichte.«

      »Wie Sie gesagt haben«, erwiderte Prentiss. »Es ist sehr lange her.« Er zögerte. »Vielleicht gibt es einen Grund dafür, daß Ihre Erinnerung so aussieht, wie Sie erzählt haben.«

      »Irgendeinene Grund«, wiederholte Forrester.

      Die Frau, die Prentiss die Tür geöffnet hatte, brachte Tee und deckte den niedrigen Tisch zwischen ihren Sesseln, ein Service aus kunstvoll bearbeitetem Silber, trübe, stellenweise angelaufen. Die gerillten Tassen waren chinesisch, ein rotbraunes Muster.

      »Soll ich eingießen?« fragte sie.

      »Nicht nötig, Emily«, antwortete Forrester. »Danke. Wir kommen schon zurecht.«

      »Toast«, sagte sie, »und ich habe das Mädchen ein paar Rosinenbrötchen aufbacken lassen. Reicht das wohl?« Sie lächelte Forrester an.

      »Reicht uns das, Mr. Prentiss? Ich glaube schon, Emily. Ja.«

      »Sie ist nicht von hier?« fragte Prentiss, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte.

      »Emily?« fragte Forrester und griff nach der Teekanne. »Sie kommt aus Westmeath, aus der Nähe von Mullingar. Aber


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