Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
und konnte nur sehen, was das verzerrte Licht in der Fensterscheibe wiedergab. Welche Geschichte kann jemals wahrheitsgemäß geschrieben werden, sei es nun die der Fenier von Kilpeder oder die des Assyrerreichs? Der junge Mr. Prentiss fragt nie nach Unterhaltungen in Küchen, und es würde ihn auch nicht interessieren, daß die dabei fallenden Worte den Eichentisch unter meinen Fingerspitzen, den Geschmack von unverdünntem Whiskey auf meiner Zunge in sich tragen, oder daß danach, als die Worte gesprochen waren, die Welt hinter der Fensterscheibe schwarz und unsichtbar, bedrohlich war: Kilpeder selber, die Baronie, die sie umgebenden Berge, und dahinter Flüsse, Dörfer, Städte, Armeen, Häfen, Gefängnisse und Ozeane. Ich drehte mich wieder zum Zimmer um, blies die Kerze aus und spürte in meiner sie schützenden Hand ihre Wärme.
5
[Patrick Prentiss]
An einem schönen Abend im lindgrünen Juni von Munster durchquerte Patrick Prentiss zum erstenmal die von Kugeln gekrönten und von Falken bewachten Tore von Ardmor Castle und ließ dabei die Stadt Kilpeder so vollständig hinter sich zurück, als ob er von einem Planeten auf einen anderen übergestiegen wäre. Vor einer Minute hatte er noch auf dem Marktplatz gestanden und zerstreut die Arms, Tully und Sohn, Henefys Metzgerladen, Conefrys Schenke betrachtet, eine Minute darauf wanderte er zwischen Bäumen dahin, Eichen und blaßnadeligen Lärchen.
Zu seiner Rechten passierte er ein Kutscherhaus, das jetzt nicht mehr bewohnt war, winzig und palladianisch, zwei kleine dorische Säulen trugen eine reich verzierte Veranda. Vor ihm führte eine gerade Allee durch den Wald, deren Oberfläche von alten Wagenspuren, Hufspuren zerfurcht war. Junges Gras sproß in den Spuren. Heimkehrende Vögel kreisten über den Bäumen.
Dort, wo der Wald spärlicher wuchs, befand sich von eisernen Zäunen umgebenes Weideland. Dort wartete zwischen zwei Eichen in der Ferne schwarzes Vieh auf seinen Hirten. Hinter dem Weideland gab es noch mehr Wälder und einen Bach, der aus einem seichten See der Sullane entgegenfloß. Eine gewölbte Brücke führte über den Bach, auf der anderen Seite des Sees befand sich ein kleiner Steinpier, fast eine Verzierung, an dem jedoch ein auf dem seichten Wasser dümpelndes Boot vertäut war. Hinter dem See, zwischen den Ulmen, lag ein hölzernes rundes Lusthaus mit kegelförmigem Dach. Dieser Anblick war Prentiss von japanischen Drucken vertraut, und er wußte, daß genau diese Wirkung bei Besuchern, die soeben den Wald verließen, erzielt werden sollte. Erzielt durch etwas Feineres, Künstlerischeres als einfache Sorgfalt. Bach, See, Brücke, Pier, Lusthaus, fast sogar das Vieh selber, das unter seinen weitkronigen Eichen ruhte, waren nach einem ausgefeilten und zugleich zufälligen Plan entworfen worden.
Ardmor Castle selber lag noch ein gutes Stück entfernt, nüchtern und elegant. Auch dieses Schloß war in der Absicht errichtet worden, den Reisenden zu beeindrucken, aber diese Absicht unterschied sich von der, die Brücke, Pier und Lusthaus erdacht hatte, um einen Moment japanischer Verblüffung zu schaffen. Die hohen palladianischen Fenster hielten noch die letzten Abendsonnenstrahlen, als Prentiss sich dem Schloß näherte, weich und kühl, ein Spiel des Lichtes zwischen den gewaltigen Steinquadern. Die Allee endete in einer bogenförmigen, mit Kies bestreuten Auffahrt, über die er auf die Eingangstür zuging. Aus geringerer Entfernung war jedoch zu sehen, daß die weiße Farbe der Fensterläden abblätterte und verwittert war. Die Treppenstufen, über die er die Tür erreichte, waren von vertrocknetem blaßbraunem Schmutz überzogen.
Hugh MacMahon hatte Prentiss an einem Nachmittag, als sie auf einem flachen Hügel standen und das Schloß und die Domäne sehen konnten, vorgeschlagen, einmal mit Lionel Forrester zu sprechen. »Er war 67 hier in Kilpeder, wissen Sie. Der Earl war nicht hier, er studierte damals in Cambridge. Aber Lionel war hier, er besuchte die Mutter des Earl.«
Prentiss lächelte zweifelnd. »Der Vetter eines Earls«, sagte er, »kann mir doch sicher nicht viel über die Geschichte der Fenier erzählen.«
»Aber Sie würden in ihm trotzdem einen sympathischen Mann finden«, meinte MacMahon. »Er ist auch eine Art Historiker, so wie Sie selber. Jedenfalls ein Schriftsteller. Essays und Reisebücher – ein paar Romane. Ich habe die meisten. Eine Frage des Lokalpatriotismus.« Aber Prentiss schüttelte den Kopf.
Als sie weitergingen, behielten sie das Schloß im Blick, und seine Ausmaße wurden zur Größe eines Puppenhauses reduziert, der See zu einem grünsilbernen unregelmäßigen. Spiegel Kein Pfad führte vom Hügel, und sie bahnten ihren Weg durch Nesseln und hohes Gras, auf die MacMahon geistesabwesend mit seinem Schlehenstock einschlug. Die Sullane floß in der Ferne vorbei, durch die Sonne oder den Schatten der Bäume.
»Wir haben hier zwei Welten«, sagte er. »Unsere und ihre. Ihre Welt ist die halbe Geschichte.« Er blieb stehen und wandte sich zu Prentiss um. »Das müssen Sie doch selber wissen. Ihre Geschichte endet in Brierly Lodge.«
Prentiss schüttelte wieder den Kopf. »Ned Nolan hat diesen Mann 1892 umgebracht, ein Vierteljahrhundert nach dem Aufstand.« Dann aber fragte er voller Neugier: »War Forrester an jenem Abend in Brierly Lodge?«
»Nein, das war er nicht. Er war Lord Ardmors Vetter, und inzwischen standen den Ardmors die Häuser des Landadels nicht mehr offen. Die Ardmors waren die edelste von all diesen Familien. Das sind sie immer noch. Es hat eine Zeit gegeben, da gehörte ihnen die Stadt Kilpeder, einfach so, wie jemandem eine Weide oder ein Jagdhaus in Connemara gehören. Aber nach dem Landkrieg waren manche Türen für sie verschlossen. Es war eine bittere Zeit.«
»Sie kennen ihn also«, fragte Prentiss, »diesen Lionel Forrester?«
»Ich sehe ihn vielleicht vier-oder fünfmal pro Jahr. Er kommt im Herbst zur Jagd, und dann erst wieder im Frühling. Wir tauschen Bücher aus. Im Herbst schickt er mir jedesmal Moorhühner oder Fasane, und alle ein bis zwei Jahre legt er ein neues Buch von sich bei. Er hat ein wunderbares Büchlein über die italienischen Hügelstädte veröffentlicht, das er selber illustriert hat. Lord Ardmor lebt jetzt dort, in den Hügeln südlich von Florenz. Er kommt nie her.«
»Nie?«.
»Er hat Kilpeder endgültig 1892 verlassen, in dem Jahr, in dem seine Frau in London gestorben ist. Er war seitdem noch zweimal hier, weil es die Geschäfte des Gutes erforderten, und wenn er sich darum gekümmert hatte, reiste er gleich wieder ab. Bis auf eine Handvoll Farmen ist das Ardmor-Land bis hin zu den Domänenmauern verkauft worden. Sie waren einst eine reiche Familie, die Ardmors, und ihre Farmen zogen sich bis zur Grenze von Kerry und im Norden bis Millstreet hin. Sie waren die Gutsherren meiner eigenen Familie, der MacMahons, und auch der Nolans, um genau zu sein. Die Zeiten ändern sich, sogar in diesem elenden Hinterwald.«
Sie hatten sich wieder in Bewegung gesetzt, und jetzt verbarg eine Schonung das halbe Schloß vor ihren Blicken, als ob eine Wolke sich darüber gelegt hätte.
»Aber Sie müssen befreundet sein«, beharrte Prentiss. »Sie und Forrester. Warum sollte er Ihnen denn sonst Bücher und Moorhühner schicken?«
»Ich habe nie gelernt, wie man solche Geschöpfe fertigmacht«, antwortete MacMahon. »Wie sie aufgehängt werden und alles andere. Da liegt das arme Vieh dann auf meinem Küchentisch, und seine Federn verlieren ihren Glanz, und seine offenen Augen sehen aus wie dunkle Glasperlen. Die Bücher sind mir weitaus willkommener, um Ihnen die unhöfliche Wahrheit zu sagen. Er hat ein großes Talent dafür, mit einem oder zwei Sätzen weit entfernte Orte lebendig zu machen – die Sonne, die auf Fischernetze scheint, oder die Frauen auf Sizilien, wenn sie Sonntags aus der Messe kommen, dunkel und schweigsam. Nein, wir sind nicht befreundet. Dort liegt seine Welt, hier meine.«
Sie hatten inzwischen den Hügel verlassen und gingen über ein Feld auf die Straße zu. Der Duft von Klee hing in der Luft, Kleeblüten schmückten das Gras. Sie gingen in geselligem Schweigen dahin, aber Prentiss spürte, daß MacMahon etwas unerwähnt gelassen hatte. Er sagte nichts; sein neugewonnener Freund, denn als den betrachtete er MacMahon inzwischen, sollte mit seiner Vergangenheit allein sein. Dann sagte MacMahon schließlich auf kunstvoll lässige Weise: »Aber Forrester hat Bob Delaney gut gekannt. Wissen Sie, Bob und Ardmor waren befreundet.«
»Lord Ardmor?« fragte Prentiss ungläubig. Ardmor Castle, und ein Hinterzimmer von Tullys Laden, mit dem Geruch der Lebensmittel?
»Nicht