Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
wer ist dann mit dir losgezogen?«
»Die üblichen«, antwortete Vincent. »Bob Delaney und noch ein paar.«
»Merkwürdig, daß Bob so unklug war.«
»Ach, es war sogar Bobs Idee. Bob hat mehr Seiten, als du im Laden zu sehen bekommst.«
»Und Hughie MacMahon?«
»Der nicht. Mary geht es nicht gut, und deshalb hat er den Abend bei ihr verbracht. Und das war gut für seinen Ruf. Es hätte einem Schulmeister doch übel angestanden.«
Vincent erzählte mir, daß er in den ein oder zwei Minuten, in denen er sich seine Geschichte ausdenken mußte, mit einem anderen Teil seiner Gedanken wie ein Kronanwalt daran herummäkelte. War sein Vater zum Laden oder vielleicht zu meinem Haus gegangen? Aber nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war, lag darin, einen kühlen Kopf zu behalten, die einzige Hoffnung. Und er war schon längst ein geübter Geschichtenerfinder, da sein Vater sich immer wieder nach Vincents Unternehmungen erkundigte, wobei ihn höchstens das Fehlen eines Gitters und die Macht, die Sünden zu vergeben, von einem Beichtvater unterschieden. Vielleicht glaubte er jedoch, über etwas dieser Macht Ähnelndes zu verfügen. Vincents rücksichtsloses Benehmen – und jetzt spreche ich nicht von Rebellionen, sondern von seinem Betragen bei Mädchen, bei Pferden oder an Spieltischen – war ein Thema, an dem der Vater sich immer wieder versuchte, ohne jedoch die ganze Wahrheit wissen zu wollen.
»Und dieser Vetter von Hughie, dieser Ned Nolan. War der auch dabei?«
»Doch, der ja«, sagte Vincent sofort, ehe er sich gestattete, am Portwein zu nippen. »Obwohl er nichts vertragen kann. Ein Glas oder zwei, vielleicht aus Höflichkeit ein drittes. Aber seine Gesellschaft hat uns Spaß gemacht. Ein sehr interessanter Mann.«
»Interessant«, sagte Tully.
»Und das ist er ja nicht ohne Grund«, fuhr Vincent fort. »Drei Jahre war er bei der Nordstaatenarmee und hat in den Tälern und Bergen von Tennessee und Virginia gekämpft. Und außerdem hat er in New York gewohnt. Ein weitgereister Mann.«
»Das stimmt. Und jetzt ist er über das Meer nach Kilpeder gereist. Nur die wenigsten machen die Reise in dieser Richtung.«
»Zurückgekehrt wäre vielleicht ein besserer Ausdruck. Er ist hier geboren, er ist aus Kilpeder.«
»Das weiß ich«, sagte Tully. »Tom Nolans Sohn. Ich habe Tom Nolan gekannt. Es war ein schöner Tag für Kilpeder, als Tom Nolan es verlassen hat.«
»Vielleicht«, erwiderte Vincent. »Ich habe gehört, daß der Name Thomas Justin Nolan in diesem Haus voller Respekt ausgesprochen worden ist, von Dr. Considine und sogar von Pater Cremin selber.«
Und das traf sicher zu, denn so geht es eben. Die Männer von 48, wie sie immer genannt wurden, waren in diesen Tagen heiß verehrt, als Patrioten und Gentlemen, die niemals zu brutaler Kriegführung herabsanken oder das gewalttätige und unwissende Blut der Gebirgler und Slumbewohner aufrührten. Ganz anders, natürlich, als die Fenier, die von den respektablen Bürgern als die neuen Sansculotten verdammt wurden. Und doch habe ich erlebt, daß die Fenier – und damit meine ich natürlich die »echten« Fenier, die Fenier von 67, die Männer von Clonbrony Wood, wie Vincent und mich selber, Gott helfe uns, als Bilderbuchhelden gepriesen werden, um die Land League-Leute und die Invincibles und die Dynamiters zu verdammen. Zeit und Mißlingen, vor allem Mißlingen, werfen einen Umhang aus sanften Farben und Geweben über die Vergangenheit.
»Dr. Considine hat Tom Nolan nie gekannt«, sagte Tully. »Und Cremin auch nicht. Beide sind Fremde in Kilpeder, auch wenn sie schon ein paar Jahre hier leben. Neulinge. Ich habe ihn gekannt«
Er hatte schon recht. Denn Thomas Justin Nolan hatte sich nicht darauf beschränkt, leidenschaftliche Artikel in The Nation zu verfassen. Er hatte sich alle Mühe gegeben, Kilpeder aufzuwiegeln, hatte die Vertriebenen und die halb Verhungerten von 48 angestachelt, zu Piken und Knüppeln und Stöcken zu greifen. Und als ihm das nicht gelungen war, war er mit einem halben Dutzend Unzufriedener nach Tipperary gezogen, um sich Smith O’Brien anzuschließen. Natürlich hatte der junge Dennis Tully ihn verabscheut, ebenso wie sein Vater, der alte Malachi, der Gründer, wie er später genannt wurde. Denn in jenen Tagen, in den entsetzlichen Tagen der Hungersnot und ihrer Folgen, wurde der Grundstein für das Haus Tully wirklich gelegt. Und als Dennis zu Beginn der Sechziger Jahre seinen großen neuen Laden am Marktplatz eröffnete, brachte er über dem Eingang eine Steintafel an, nicht mit dem Baujahr, sondern mit der Jahreszahl 1848. Malachi und Dennis Tully hätten mit Thomas Justin Nolan nur wenig anfangen können.
Aber Vincent konnte sehr gut die Richtung sehen, in die Tullys Worte sie trugen, und ich sah sie ebenfalls, als Vincent mir die Szene darstellte. Ich konnte diesen Salon sehen, vollgestopft mit den Trophäen des Tullyschen Wohlstandes, mit Ölgemälden in vergoldeten Rahmen, mit der Anrichte, mit den Sesseln, die wie Schiffe auf einem See aus türkischen Teppichen segelten, mit dem Kaminaufsatz wie eine Kathedralenfassade, mit den schützend vorgezogenen Samtvorhängen. Fast konnte ich sogar Tully selber sehen, obwohl er in Vincents Skizze ein wenig vage und unklar blieb, denn sein Vater diente Vincent zwar als Objekt für satirische Portraits, besaß aber doch auch eine tiefe, primitive Macht. Was Vincent nicht hätte vorhersaen können, waren Tullys nächste Worte.
»Ich hatte heute nacht Besuch, Vincent, von Sergeant Honan von der Polizei. Er kam sehr spät, du warst schon längst in die Arms gegangen.«
Vincent erzählte mir, er habe nicht darauf reagiert, sondern ruhig abgewartet, ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen, denn Tully hielt einen abgewandten Blick für den Beweis eines Vergehens.
»Er hat nach dir gefragt«, fuhr Tully fort. »Und ich sagte, du wärst höchstwahrscheinlich mit deinen Freunden in den Arms und würdest von dort aus sicher noch zu irgendwem auf ein letztes Glas gehen, vermutlich zu Hughie MacMahon. Oder in die Berge, um in irgendeiner Hütte Poitín zu trinken, den er aus der Baronie verbannen soll, wie ihm sein Eid befiehlt. Es ist ein großer Trost für einen Vater, das Benehmen seines Sohnes vorherzusagen.«
»Wenn Sergeant Honan nichts von Pat Laffans Poitín weiß, dann ist er in seinem Unwissen aber wirklich allein«, meinte Vincent, leichthin, aber auf der Hut. Der Portwein, der nicht aus Laffans Brennerei stammte, sondern von den sonnenbeschienenen Hügeln Portugals, lag reich und süßlich auf seiner Zunge.
»Du bist nicht der einzige, der Ned Nolan interessant findet«, sagte Tully. »Die irische Polizei interessiert sich auch für den Jungen. Interessiert sich wirklich sehr. Und auch für seine Freunde, die er sich in Kilpeder vielleicht zulegt.«
»Er hat sich zuerst seinen leiblichen Vetter zugelegt, Hugh MacMahon«, erwiderte Vincent. »Und Bob Delaney und mich selber. Bei Gott, die Polizei macht sich ganz schön Arbeit, wenn sie die Freundschaften unter den Männern von Kilpeder untersuchen will.«
»Du weißt sehr gut, was ich meine, Vincent, und es gehört durchaus zu ihren Pflichten. Sergeant Honan hat streng vertraulich mit mir gesprochen. Es geschah aus seiner Herzensgüte und aus seiner Besorgnis um dich und um mich.«
»Um mich?« fragte Vincent. »Und um dich?«
»Es sind verzweifelte Männer am Werk, Vincent, die Kummer und Elend über uns alle bringen können. Du brauchst nicht zur Polizei zu gehen, um das zu erfahren, du brauchst nur in der Messe Pater Cremin zuzuhören. Er hat sie von der Kanzel herab angeklagt, und er hat den Brief unseres Bischofs vorgelesen, der sie entlarvt. Diese verzweifelten Männer, wenn sie machen könnten, was sie wollten, dann würde in den Straßen von Kilpeder und in jeder anderen Stadt in Irland Blut vergossen werden.«
»Und was hat das mit Ned Nolan zu tun?«
»Hältst du deinen eigenen Vater für ein Kind, Vincent? Und hältst du Dublin Castle für hurleyspielende Kinder? Ned Nolan ist ein bekannter Mann. Er ist ein eingeschworener Fenier. Das war in New York bekannt, und was in New York bekannt ist, das weiß auch Dublin Castle. Sie schicken seit sechs Monaten ihre Männer herüber, Schurken und Verworfene, ohne Beschäftigung, jetzt, wo der Krieg zu Ende ist.«
»Und Ned Nolan gehört zu ihnen, wollte Honan dir das sagen?«