Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
und damit war ich zufrieden, ich kann nicht sagen, für wie lange, dann weckte mich das Geräusch eines Stuhles, der im Zimmer unter uns verrückt wurde, und als ich schon angefangen hatte, an meinen Ohren zu zweifeln, hörte ich es wieder.
Nun stand ich auf, und da ich keine Zeit damit vergeuden wollte, an den Kleiderhaken hinter der Tür nach meinem Schlafrock zu suchen, streifte ich meine Hose über und ging nach unten. Im Vorübergehen registrierte ich, daß Neds Tür offenstand, und ich fand ihn in der Küche. Auf dem Tisch, vor dem er saß, brannte eine Kerze, und er hatte neben sich eine Flasche stehen. Er war immer noch vollständig angezogen, und er mußte meine Schritte auf der Treppe gehört haben, denn er blickte zur Tür, als ob er mich erwartete, und er lächelte.
Unsere Begegnung sollte jedoch nicht die letzte späte Begegnung dieser Nacht bleiben, denn als Vincent nach Hause kam, das erzählte er mir am nächsten Tag, war sein Vater noch wach und wartete auf ihn. Als Vincent mir seine Geschichte berichtete, hatte ich immer noch meine Küchenszene im Kopf, mit ihrer einzigen Lichtquelle, deren Licht, weich und hart zugleich, wie tot auf Ned fiel, auf seine hohen Wangenknochen und seine tiefliegenden Augen, und auf sein Lächeln, das mich mit einem fremden Teil seines Wesens bekannt machte, zurückhaltend und bedrohlich. Ich erzählte Vincent nichts von unserem Gespräch, was ganz außergewöhnlich war, denn Vincent und Bob und ich standen einander so nahe wie Dumas’ Drei Musketiere, obwohl mir jetzt einfällt, daß Athos sein düsteres Geheimnis hatte, das er Porthos und Aramis fast bis zum Ende vorenthielt. Aber schließlich brannte Vincent ja auch darauf, seine eigene Erzählung loszuwerden.
Das Wort »Erzählung« benutze ich ganz bewußt. Es gibt Menschen, denen jeglicher Ehrgeiz fehlt, ihre Worte zu Papier zu bringen, die aber dennoch alle Gaben eines Erzählers haben, mit Ausnahme des Durchhaltevermögens. So ein Mensch war Vincent Tully. Als Erzähler war er ein Wunder, und das paßte gut zu seinen übrigen liebenswerten Seiten. Wenn Vincent in Form war, unterbrachen ihn nur die verstocktesten Spießer mit Fragen oder Kommentaren, niemand jedoch brachte konkurrierende oder ergänzende Anekdoten. Denn wenn irgend etwas fehlte, das zum vollen Verständnis notwendig war, dann konnten wir uns darauf verlassen, daß Vincent das so wollte und daß fehlende Informationen zum passenden Zeitpunkt ihren überraschenden Auftritt haben würden. Seine Geschichten waren elegant aufgebaut, und man konnte das Vergnügen spüren, das er bei ihrer Konstruktion empfand. Alles, was für Bühnenbild und Atmosphäre nötig war, wurde eingearbeitet: Charakteristiken, Tonfälle, Zögern, Gerissenheit oder Possenreißereien, das Aussehen eines Zimmers, Geräusche und Schweigen während einer Unterhaltung – das alles stand seinen Zuhörern vor Augen, wenn er lässig seine Sätze von sich gab. Und wenn alles zum Abschluß gebracht war, wurde die Erzählung durch eine unerwartete Bemerkung abgerundet, »So, Jungs, was sagt ihr nun dazu?«, und die Geschichte hing noch eine Weile in der Luft, unsichtbar, und in das Vergnügen seiner Zuhörer floß ein Wermutstropfen, wie immer, wenn wir die Künste erleben, die im Moment ihrer Ausführung für immer verschwinden, die Künste eines Gauklers, Tänzers, Jongleurs.
So war es auch am nächsten Abend mit Vincent Tullys Geschichte darüber, wie er mit dem alten Dennis Tully zusammengestoßen war, und dabei bemerkte ich, nicht zum erstenmal, die Gefahr, die dem begabten Geschichtenerzähler mit seinem Talent gegeben ist. Denn die Geschichte mag ihre Bedeutung haben, vielsagende Ausdrücke und Farben, und doch kann die Bedeutung dem Erzähler selber unzugänglich sein, anders als in den Fabeln von Aesop und La Fontaine, die am Ende pflichtschuldigst ihre Tadel und Ermahnungen beisteuern. Als Vincent mir seine Geschichte von Vater und Sohn erzählte, die einander wie riesige Kater umkreisten, ein Daumen in der Weste aus changierender violetter Seide mit weißem eingewirktem Zweigmuster eingehakt, schien er mich geradezu zu bitten, ihre Bedeutung zu entschlüsseln, und ich hätte das durchaus machen können. Aber ich war zu sehr erfüllt von einem Gesicht im Kerzenlicht, und Vincents Stimme entführte mich durch ihren Unterton von boshaftem Vergnügen.
Um halb zwei schloß Vincent die Haustür auf und betrat die Eingangshalle, die jetzt dunkel war, abgesehen von dem Streifen gelben Lichtes, der aus dem offenen Salon fiel, und die mir immer, wenn ich die Gelegenheit zu einem Besuch hatte, ein erster Botschafter vom Wohlstand der Tullys war, mit ihrem üppigen Teppich, hellrosa mit gelben Vierecken und Rauten, ihrem sorgfältig gearbeiteten Garderobenständer, kompliziert verschlungen wie das Geweih eines Hochlandhirsches, und dem langen Tisch mit seiner Platte aus rosa Marmor.
»Vincent!« rief Dennis Tully. »Komm her. In den Salon.«
Als Vincent den Salon betrat, sagte er: »Ich wollte ohnehin hier hereinschauen, Vater. Ich habe schon auf der Straße das Licht gesehen. Was ist los, bist du krank?«
»Ich bin nicht sicher«, antwortete sein Vater. »Vielleicht. Vielleicht bin ich krank.«
Er saß, erzählte mir Vincent, in dem Sessel, der in der Familie als seiner galt, und auf dem nicht einmal fremde Besucher Platz nahmen, als ob ein Teil seines Wesens in die Kissen und die hohen Armlehnen übergegangen wäre. Eine Teekanne stand neben seinem Ellbogen auf dem kleinen Tisch aus dunklem Holz. Alle Gaslampen im Zimmer brannten, und der schwere grüne Samt der Vorhänge war vorgezogen, mit Ausnahme eines schmalen Fensterchens, hinter dem die vom Mond schwach erhellte Nacht lag. Es war der Sessel, in dem er sich sonst ausruhte, sein kahler Kopf mit seinem Kranz aus frühergrautem Haar ruhte, auf dem gestärkten Leinen eines sinnlosen Sesselschoners, und sein grobknochiges Gesicht war entspannt, die Wangen voll und rosa, und die Hände mit den hellbraunen Flekken ruhten auf seinen massiven Knien. Wenn er so in seinem Sessel saß, konnte er den Teil der Welt übersehen, der aus seiner Familie und seinen Gästen bestand – Mary und mir vielleicht einmal alle zwei Wochen, Schulmeister und Frau, und Considine, der katholische Arzt, und vielleicht Mr. Roberts, der Armenpfleger. Aber in dieser Nacht saß er vorgebeugt in seinem Sessel und wiegte sich sanft vor und zurück. Sein Kopf war gesenkt, und die Wülste unter seinem Kinn wurden aufeinander gepreßt. Vincent griff zur Teekanne.
»Großer Gott«, sagte er. »Kein Wunder. Der Tee ist eiskalt. Der muß ja wie Grabenwasser in deinem Magen liegen.«
»Mary Ellen hat mir die Kanne gebracht, ehe sie ins Bett gegangen ist. Ich hatte sie nicht darum gebeten, aber du kennst ja deine Mutter.«
Vincent zog seine Uhr aus der Tasche und hielt sie unter die Lampe. »Ein Glas Portwein«, sagte er. »Es ist ein königliches Heilmittel, und ich trinke eines mit dir.«
Als er an der Anrichte stand und die Gläser aus der Karaffe mit dem tintenschwarzen Portwein füllte, sprach er immer weiter über die späte Stunde und die seltsame Entdeckung, daß Dennis noch auf war, allein und stumm vor seinem kalten Tee. Aber beim Reden dachte er nach.
»Ich weiß, wie spät es ist«, sagte Tully. »Und dazu brauche ich deine hervorragende Uhr nicht.« Sie war wirklich hervorragend; Vincent hatte eine Vorliebe für Taschenflaschen, Uhren, Zigarrenetuis. »Ich war hier, im Salon. Wo warst du?«
»An keinem respektablen Ort«, antwortete Vincent. Er trug die Gläser vorsichtig, denn er hatte sie bis dicht unter den Rand gefüllt, aber trotzdem schwappte aus einem davon etwas über, als er es seinem Vater reichte, und auf seiner Hand war der Wein nicht mehr tinten-, sondern pflaumenfarben. »Und ich sollte dir wohl lieber die ganze Wahrheit sagen. Ich war mit ein paar anderen oben in den Bergen, bei Laffan, dem Whiskeybrenner. Und mein Kopf ist nicht mehr allzu klar, wenn du das unbedingt wissen willst. Man könnte genausogut Schießpulver und Petroleum trinken wie das Gebräu dieses Burschen.«
»Daß dein Magen das verträgt, Portwein auf Poitíng!«
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagte Vincent und setzte sich Tully gegenüber auf die andere Seite des Tisches.
»Wer war denn bei dir da oben? Das war ein dummes Unternehmen, mitten in schwarzer Nacht.«
»Bei Gott, das stimmt. Aber du hast zu deiner Zeit sicher genau solche Dummheiten begangen, vielleicht sogar noch schlimmere.«
»Habe ich nicht. In deinem Alter war ich Ehemann und Vater. Und ich hatte den Laden, um mich bei der Stange zu halten.«
»Und wenn schon«, sagte Vincent. »Es ist besser, wenn wilde Gelüste schon in der Jugend aus unserem Blut verschwinden. Nicht, daß es so ein wildes Gelüst gewesen wäre. Wir hatten