Pächter der Zeit. Thomas Flanagan

Pächter der Zeit - Thomas Flanagan


Скачать книгу
und bis zum Frühjahr 66. Danach kamen die Verhaftungen, und die Organisation zerfiel. Auch 67 hätte es keinen Aufstand gegeben, wenn Stephens nicht abgesetzt worden wäre. Das ging ganz einfach. McCafferty hielt ihm einen entsicherten Revolver an den Kopf und sagte: ›Mr. Stephens, Sie sind abgesetzt.‹ McCafferty hatte ein wunderbar einfaches Auftreten – er war einer der amerikanischen Offiziere, einer von Mosbys Südstaatenguerilla. Aber das weiß ich alles nur vom Hörensagen. Im Februar 66 saß ich selber im Mountjoy-Gefängnis.«

      »Und 67«, sagte Prentiss, »als es zum Aufstand kam, hat damals McCafferty den Befehl dazu erteilt? Damals war McCafferty doch Nummer 1?«

      Wieder lächelte Devoy. »Außer James Stephens hatte niemand diesen Titel. Außer Mr. Shook. Aber es kann nicht McCafferty gewesen sein. McCafferty organisierte den Überfall auf das Arsenal von Chester. Kelly hat den Befehl erteilt, ein solider Mann. Ich erinnere mich an den Tag des Aufstandes, wir konnten es den Wärtern anmerken, und einer von ihnen, ein anständiger Bursche namens Clanahan, erzählte mir, daß sich oberhalb von Rathfarnham tausend Männer gesammelt hätten und daß die Truppen losgezogen waren, um sie zum Aufgeben zu zwingen. Später hörten wir von den Aufständen in Cork.«

      »Vom Aufstand von Kilpeder?«

      »Vom Aufstand von Kilpeder, ja, Ned Nolans Aufstand, aber auch von den anderen – Ballyknockane und den anderen. Eine verdammte Verschwendung. Im Hinterzimmer in der Grantham Street habe ich James Stephens im Januar 66 gesagt: Jetzt oder nie‹, und später habe ich andere sagen hören, McCafferty hätte gleich ganze Arbeit leisten und abdrücken sollen, wo er seinen Revolver schon entsichert hatte. Aber dazu hätte er sich niemals hergegeben, und Burke oder Kelly auch nicht. Wir schuldeten Stephens alles. Er hat es verpatzt, und deshalb wurde er zu recht kaltgestellt, aber wir hatten ihm alles zu verdanken. Danach kamen für ihn triste Jahrzehnte, armer Teufel, aber seine Beerdigung war großartig, habe ich gehört.« Wieder zog Devoy an seiner Zigarre und grinste Prentiss an. »Fenier sind Spezialisten für großartige Beerdigungen, Mr. Prentiss. Wir haben den armen Terence MacManus ausgegraben und ihn um die halbe Welt von San Francisco nach Glasnevin gebracht.«

      Habicht in einer regnerischen Nacht, dachte Prentiss, in geliehenem Mantel, unter den blattlosen tropfenden Bäumen, von bewaffneten jungen Männern durch Straßen aus braunen und gelben Ziegelsteinen geführt, die Ufer des dunklen Kanals entlang, im prasselnden Regen. Er starb damals, nicht nach tristen Jahrzehnten, zur Strecke gebracht durch die Vogelflinte der Geschichte, und seine lange Wanderung durch Munster und Connacht, die Jahre der Pläne und der Ränke, des Geldbettelhs bei Immigranten in New York, Bahnfahrten, um für Iren, die mit den Nordstaateritruppen in Tennessee, in den Tälern von Virginia lagerten, Reden zu halten, das alles lag weit zurück. Vor ihm lagen nur seine Monate der Unentschlossenheit-Terror, vielleicht, und das Warten auf die Geister, die er selber herbeigerufen hatte, und dann der dickläufige Revolver des Straßenräubers McCafferty, der gegen seinen Schädel gepreßt wurde.

      »Mein eigenes Spezialgebiet«, fuhr Devoy fort, »war das Anwerben von irischen Soldaten in englischen Regimentern, und das ging ziemlich gut. Ich habe Hunderten von ihnen den Eid abgenommen. Aber die Briten sind auch keine Trottel. Bis zum Frühjahr 66 waren alle Regimenter von waschechten Engländern abgelöst worden, und ich und meine Anwerbegehilfen saßen hinter Gittern. Stephens hatte mir einen Titel verpaßt, Chief Organiser of the British Army. Er war ganz groß im Titelerfinden. Als sie mich verhafteten, war ich gerade an der Arbeit und hatte zwei Sergeants im Hinterzimmer einer Kneipe. Ein Denunziant hatte mich verkauft.«

      Sie aßen in einem Restaurant in den West Twenties, um die Ecke von Devoys Fenier-Zeitung. Vor ihnen standen kalter Kaffee und leere Weingläser.

      »Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben sie Ihnen lebenslänglich gegeben«, sagte Prentiss.

      Devoy schüttelte den Kopf. »Fünfzehn Jahre Zwangsarbeit. Ich hatte keine Möglichkeit, den Revolver, von dem ich Ihnen erzählt habe, abzufeuern. Deshalb kam ich 71 auch für die Amnestie in Frage, zusammen mit Rossa. Leute wie Ihr Nolan mußten ein paar Jahre länger ausharren. Als Nolan hier herüberkam, haben wir ihn in Empfang genommen:«

      »Kannten Sie ihn von früher«, fragte Prentiss, »aus Irland oder aus dem Gefängnis?«

      »Überhaupt nicht«, antwortete Devoy. »Ned ist Ende 66 nach drüben geschickt worden, vielleicht auch Anfang 67, am Vorabend des Aufstandes. Und nachher saß er in Portland und ich in Millbank. Ihm erging es am schlimmsten. Millbank galt als vorbildliches Gefängnis, während Portland entsetzlich war. Die Leute sind in Portland verrückt geworden. Ned allerdings nicht. Portland hat Ned hart gehämmert. So geht es eben. Das Gefängnis hat den armen Rossa zum Fanatiker gemacht und Ned zu – naja, zu dem, was er geworden ist. Sie wissen ja, was er geworden ist.«

      Aber Prentiss wußte es nicht. Sie alle bewegten sich in Bahnen, die jenseits von seiner Erfahrung oder seinem Begriffsvermögen lagen. Russische Nihilisten vielleicht, oder Anarchisten, die sich in ihren Clubs und Kaffeehäusern in Whitechapel trafen, mit dunklen Gesichtern, großen Gesten, weiten deklamierenden slawischen Armbewegungen. Nicht wie Devoy, zugeknöpft, zurückhaltend, eine höfliche, distanzierte Verbindlichkeit ohne jegliche Liebenswürdigkeit. »Heute?« hatte Devoy zu Beginn ihrer Mahlzeit gesagt. »Heute bin ich ein höchst respektabler alter Geselle. Meine Zeitung hat versucht, das Interesse an irischen Fragen wachzuhalten, wir haben einen Korrespondenten in Dublin, es gibt viele Schwesterorganisationen, hier und in Jersey. Gedenkveranstaltungen. Irland ist im Moment sehr ruhig, wissen Sie, sehr verfassungstreu. Es hat Mr. Redmond und Mr. O’Brien und Mr. Healy seine Zukunft anvertraut.«

      Prentiss wußte es besser. Selbst jetzt gab es eine schattenhafte Fenier-Organisation, und Devoy stand ihrem Zentrum nahe.

      »Mr. Healey«, fuhr Devoy mit sanfter Stimme fort, »der Mann, der Parnell verraten hat. Und der kleine Johnny Redmond. Es gibt keine Ned Nolans mehr. Das alles ist 1891 in den Hügeln von West Cork gestorben.«

      Während des Essens – klare Brühe und Hammelkoteletts für Devoy, die Folge seiner Verdauungsstörungen – hatte der alte Mann lässig über den Aufstand von 67 Auskunft gegeben, ein abgeschlossenes und in der Vergangenheit versiegeltes Ereignis. Aber seine Bemerkungen über die kürzer zurückliegende Geschichte waren ausweichend, gewunden, ab und zu mit einem Hauch von Schwefel befangen – Fraktionen, Spaltungen, Sullivan und der verräterische »Dreiecksflügel«, die Invincibles, Rossas Kämpfer.

      »Lomasney«, wagte sich Prentiss vor, »der Mann, der unter der London Bridge die Sprengladungen angebracht hat, hatte Rossa den beauftragt?«

      »William Mackey Lomasney«, antwortete Devoy. »Der Kleine Captain, so haben seine Leute ihn immer genannt. Ein gedrungener Mann. Ich kannte seine Witwe gut, sie lebt drüben in Brooklyn.«

      »Hatte Rossa ihn beauftragt?« wiederholte Prentiss amüsiert.

      »Seien Sie sich da nicht zu sicher, Mr. Prentiss«, sagte Devoy und fixierte ihn mit seinen harten grauen Augen, Messer und Gabel hingen in der Schwebe über dem Kotelett. »Die Organisation ruft ab und zu auf eigene Faust eine Kampagne ins Leben.« Die Gabel spießte auf, das Messer schnitt energisch ins Fleisch. »Lomasney und Ihr Nolan waren Freunde, und keiner stand Rossas Operationen nahe. Das habe ich jedenfalls gehört.«

      »Warum Ned Nolan?« fragte er später und nippte mit der Wachsamkeit des Temperenzlers an seinem Weine. »Warum über Nolan schreiben? Ein guter Mann, aber kein Führer. Abgesehen von Clonbrony Wood.«

      »Vielleicht gerade deshalb«, sagte Prentiss. »Oder vielleicht, weil ich jemanden wie Nolan nicht verstehen kann, jemanden, der hart wie ein Diamant geworden ist. Er ist wie einer der Männer, über die Plutarch schreibt.«

      »Plutarch«, wiederholte Devoy und kostete die schweren Vokale aus wie ein Stück Hammelfleisch. »Wenn ich mich richtig an Mr. Plutarch erinnere, dann wollte er das Leben der Menschen, der Schurken und Patrioten von Griechenland und Rom glasklar darstellen.«

      Aber es war Devoy selber, der Prentiss an Plutarch erinnert hatte – exiliert, ein unerschütterlicher Patriot, mit sauberer, aseptischer Ausstrahlung, Zigarren, pro Abend zwei Whiskeys. Sein Gemüt hatte sich so verhärtet wie Nolans, wenn auch mit weniger katastrophalen Folgen. Jetzt war er


Скачать книгу