Pächter der Zeit. Thomas Flanagan

Pächter der Zeit - Thomas Flanagan


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auf den Steinen der großen Stadt, fortgeschwemmt von dem Wasser des schweren, dunklen Flusses.

      In seinem Club, dem Savile, bei einem Hammelkotelett, einem Glas, einer Partie Whist, wurde er oft nach seinem Buch gefragt und antwortete dann vage, es handle vom Leben in Irland im letzten Jahrhundert. »Großer Gott!« sagte dann sein Gesprächspartner. »Irland!« Aber nicht wenige hatten irgendwelche irischen Verbindungen – eine Angelhütte in Connemara, einen verrückten Vetter aus Kilkenny, der zur Armee gegangen war. Sie vergaßen immer wieder, daß Prentiss selber Ire war; weder sein Auftreten noch seine Aussprache hatten etwas Irisches. Wenn er die Karten austeilte, fiel ihm plötzlich Rossa ein, der sich über den Tisch beugte. »Niemand hat Ned Nolan so gut gekannt wie ich. Ich kannte ihn so gut wie diese Hand.« Er hielt sie zur Inspektion hin, und Prentiss staunte über ihre Biographie, eine Hand, die in einem englischen Gefängnis die Spitzhacke geschwungen, die Zündkapseln gehalten, die Briefe unterschrieben hatte, die Männer zum Morden geschickt hatten, Schüsse aus dem Hinterhalt, ein Stadthaus, das in die Luft fliegt. Oder er dachte an das erste Licht auf den Derrynasaggarts, als er von Kilpeder nach Killarney gewandert war, um das Gelände kennenzulernen, wie jeder gute Historiker das tun sollte, wobei das Licht zuerst trübe auf Stein und Stechginster fiel, dann heller wurde, Hügel zeigte, zu kahl zum Grasen oder um dort Häuser zu bauen, von Geistern besiedelt. Das fiel ihm ein, wenn er wartenden glatten Händen in makellos weißen Manschetten die Karten austeilte.

      Aber später, vielleicht in der Droschke, in der er durch die Dunkelheit nach Hause fuhr, erinnerte er sich an Kilpeder, wie er es in der Ruhe des Morgens vom Eingang der Arms gesehen hatte, oder nachts, wenn er durch die von Falken bewachten Tore des Schlosses schritt, nachdem er den Abend beim alten Lionel Forrester verbracht hatte, und wenn das Mondlicht flach auf Markthalle und Obelisk schien. Entlang der Straße und dann auf der Landstraße nach Macroom bewegten sich schattenhafte Gestalten auf die Polizeiwache zu, eine Szene in der Glaskugel seiner Erinnerung, in London, ein Spielzeug.

      Nicht, daß er den Aufstand in Kilpeder für den Mittelpunkt der Rebellion von 1867 gehalten hätte; denn diese Rebellion, wie er inzwischen festgestellt hatte, hatte keinen wirklichen Mittelpunkt gehabt: Ein konfuses Oberkommando, Denunzianten, schlechter Austausch von Nachrichten, Schnee, verstreute, sinnlose Angriffe auf Kasernen, Stationen der Küstenwache, Eisenbahnen, Märsche und Gegenmärsche, demütigende Niederlagen, englische Gefängnisse, die am Ende des Weges warteten. Es war eher das Gegenteil, Kilpeder als typisches Beispiel, bevölkert mit Schauspielern, die Gesichter, Identitäten, Schicksale bekamen, indem er durch seine beiden Vergils von ihnen erfuhr, durch Mac-Mahon und Forrester, einem Schulmeister im Ruhestand und Lord Ardmors älterem Vetter, mit trockener, sardonischer Stimme.

      Denn von den noch lebenden Männern, mit denen er gesprochen hatte, waren nur wenige im Märzschnee wirklich »draußen« gewesen. Viele waren bereits in den Razzien von 65 und 66 gefangen worden und saßen in ihren englischen Zellen oder in Dubliner Gefängnissen und warteten auf die Deportation – Devoy, Rossa, O’Leary, Luby. Die Rebellionen waren lokal geschehen, auf Befehl von damals wie heute schattenhaften Männern: Kelly, McCafferty, einigen französischen Colonels auf halbem Sold, die als Führer angeworben worden waren. Die, die draußen gewesen waren, erinnerten sich an Bruchstücke, Fragmente: Eine wilde, verwirrte Schießerei in den Bergen, aufgesetzte Wildwest-Tollkühnheit, tausend Männer, die in der Nacht in den Hügeln von Dublin warteten, hinter Tallaght. Aber warum? Diese Frage machte ihm ununterbrochen zu schaffen. Warum waren diese Männer, verstreut über die Städte Munsters, von Kerry bis Waterford, mit ihren wenigen Flinten und Gewehren, mit ihren pathetischen handgemachten Piken, durch Schnee und ins massive Feuer marschiert, im Dienste einer flickenhaften Verschwörung?

      Er fing jeden Tag früh mit der Arbeit an, um halb acht oder acht, wenn London zumeist noch schlief. Starker Tee, ungesüßt, dicht bei der Hand, die Hand bewegte sich, nicht ruhig oder gelassen, wie man sich vielleicht Macaulay oder Michelet bei der Arbeit vorstellen kann, sondern hektisch, ein Absatz oder zwei, dann wurde die Feder auf ihren Halter aus Silber und Onyx gelegt, ein Geschenk seines Vaters, des Dubliner Anwalts, dem Geschichte als Folge von Schriftsätzen erschien, sparsam aufgestellt, einsortiert, verschnürt. Während dieser Pausen durchwühlte er Ordner, Kontobücher, noch nicht aus den Notizbüchern übertragene Notizen, Unterhaltungen, Gerichtsprotokolle, Zeitungsausschnitte.

      Das, was Historiker eines Tages (falls er seine Geschichte jemals vollenden würde) als die Rebellion der Fenier bezeichnen würden hatte lange vor 67 oder sogar 65 begonnen – ein Jahrzehnt früher, im Jahre 1856. Es hatte angefangen, als James Stephens – Veteran des Aufstandes von 1848 – nach Irland zurückgekehrt war, um dem Land auf den Puls zu fühlen. Monatelang war er durch die vier Provinzen gewandert, verkleidet als Bettler, Wanderarbeiter, Handelsreisender, hatte mit den Jungen und den Unzufriedenen geredet. Seinen 3000-Meilenmarsch nannte er ihn später; damals war er die legendäre »Nummer 1« der Fenier-Verschwörung. 1865, als er die Zügel der Rebellion in den Händen hielt, wurde er zum Helden der berühmten Flucht aus dem Gefängnis von Richmond; 67 war er ein entthronter Führer, verurteilt zu mehr als dreißig Jahren geschwätziger Erinnerung, inzwischen langbärtig, ein schäbiger Weiser, der ohne einen Penny in einer Vorortwohnung hauste.

      Aber 1856, im Jahr seiner Wanderung, war James Stephens ein Irrlicht gewesen, niemals vergessen, vage erinnert. An seabhac, wurde er in den gälischsprachigen Gegenden genannt, »der Habicht«, und das ging in die Polizeiberichte als »Shook« ein, »Mr. Shook«. »Es wird berichtet«, schrieb der Sergeant von Castletown Bearhaven, einer Hafenstadt in einem Ausläufer West Corks, »daß Shook, der letzten Monat von der Gazette in Waterford gemeldet wurde, in dieser Woche Castletown besucht und sich im Laden eines Hufschmiedes namens Grady mit zwanzig Männern getroffen hat. Worüber er mit ihnen gesprochen hat, weiß man nicht, aber alle waren Männer niederen Standes, mit Ausnahme Gradys, der für seine ausschweifenden Gewohnheiten bekannt ist.« Es war ein Jahrzehnt nach der Hungersnot, dem großen Hunger, und Mr. Shook besuchte die am schlimmsten heimgesuchten Gegenden, Schull und Crosshaven und Skibbereen, wo er mit einem jungen Hitzkopf namens Jeremiah O’Donovan sprach, der behauptete, seine Abstammung erlaubte ihm, sich »O’Donovan Rossa« zu nennen.

      Mit großen Schwierigkeiten suchte Prentiss nach einem Bild dieses frühen Stephens, unbesudelt von Klatsch, von Versagen. Er sah ihn bei Einbruch der Nacht, auf einem Hügelkamm, vor ihm ein nur unvollkommen vor den Seewinden geschütztes Dorf, Hütten, die zerstreut am trüben Wasser, vor einem dunkler werdenden Strand lagen. Verkleidet als Bettler, langer Übermantel, geflickte und staubige Stiefel, Segeltuchtornister auf den Rücken geschnallt, blieb er stehen. Hier, in diesem Dorf vor ihm, hatten zehn Jahre zuvor die Toten unbestattet in ihren Hütten gelegen, und hinter ihnen in den Feldern war die Kartoffelernte schwarz und stinkend verfault. Ihr Gestank hängt immer noch in der Luft, unbesiegbar von den auffrischenden Winden, die übers Wasser kommen. Er erinnert sich vielleicht an die Bauern von Tipperary im Jahre 1848, höflich und apathisch, verwirrt, als Smith O’Brien ihnen Widerstand predigte, dieser Patriarch mit der milden Stimme, der in die Rebellion geraten war und der ihnen an seinen zarten Fingern das unzählbare Unrecht abzählte, das ihnen zugefügt wurde. Vor der kleinen Menge räusperte ein Kätner sich, spuckte genau zwischen seine Füße, stupste seinen Nebenmann mit dem Ellbogen an. Ein Markttagsvergnügen, diese Herren aus Dublin in ihren Gehröcken, die eine wohlerzogene Rebellion predigten; Constables sollten auf den Straßen angehalten und entwaffnet werden, ohne daß ihnen ein Leid zugefügt würde. Der junge Stephens befand sich in der Menge, gehörte aber nicht zu ihnen, ein geladener Karabiner ruhte auf seinem Unterarm. Neben ihm O’Mahoney, Clanhäuptling der Comeraghs, ein Mann aus Tipperary, den sie kannten, aus kämpferischer Familie: ein großer gutaussehender Mann, dessen Rock offen hing und dem zwei Pistolen im Hosenbund steckten. O’Mahony hätte sie führen können, oder Stephens selber, nicht aber die Gentlemen aus Dublin. Er war nach wenigen Stunden beendet, dieser Aufstand von 48; ein Angriff auf eine Polizeiwache, ein Schußwechsel, zwei Männer tot auf einem Feld. Nie wieder, gelobten O’Mahony und Stephens in ihrem Pariser Exil, angeregt vom Gerede über blanquistische Barrikaden, dunkeläugige carbonari in schlecht beleuchteten Cafés in den Seitenstraßen des Boul’ Mich’. »Setzt die Dorfkämpfer ein« sagte Stephens, »nehmt Geiseln, reißt die Schienen auf.« Und schob O’Mahony die Flasche zu, und der, Abstinenzler in diesen Pariser Jahren, lächelte und schüttelte den Kopf. Aber später schrieb


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