Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
orange leuchtenden Sonnen hinzogen. Und in den letzten paar Jahren war diese Vorstellung geschwärzt vom Kanonenrauch, von Stichen in den Londoner Zeitschriften, die in Flüssen kämpfende Kavallerie zeigten, mit tödlichen, weit ausholenden Säbeln, Brustwehren und schwere Batterien von Artillerie zogen sich zum Horizont hin, Infanterie rückte über verwundete Erde vor, vorbei an Bäumen mit toten Zweigen. Banner und Bajonette und der reiche, würzige Duft indianischer Namen.
»Als wir nach New York zurückkamen«, sagte er, »nach Kriegsende, bin ich als erstes zu seinem Grab gegangen. In einer der Zeitungen hatte gestanden, es gäbe eine Subskription für einen Grabstein, aber es gab nur den mit Gras bewachsenen Erdhügel und eine Karte, die an einem Metallstab befestigt war, und auf der Jahr und Geburtsjahr und Geburtsort standen. Auf dem Erdhügel lag ein Kranz, schwarzgefärbtes Weinlaub mit einem grünen Band.«
»Nun ja«, sagte ich und reichte ihm sein Whiskeyglas. »Seine Freunde haben ihre Dollars wohl für einen anderen Zweck gegeben, wenn du weißt, was ich meine. Er wäre damit einverstanden gewesen.«
»Das wäre er allerdings«, erwiderte Ned und lächelte zum erstenmal, und ich sah ihn so, wie er war – kein Fremder in schwarzem Mantel vor dem Abendhimmel, sondern ein junger Mann, nicht älter als ich selber, verlegen in einem ihm fremden Land, auch wenn er es als seine Heimat bezeichnete. Er prostete mir zu.
»Vor ein paar Jahren war in der Nation ein Lied von ihm«, sagte ich. »Das habe ich auch aufbewahrt. ›Our new Ireland beyond the waves‹, hat er es genannt. Kilpeder ist immer stolz auf Thomas Justin Nolan gewesen. Ein Getreuer von 48, wie der Mann gesagt hat.«
»Sie haben ihm eine Arbeit beim Wasserwerk von New York besorgt«, erzählte Ned. »Er mußte Rechnungen überprüfen, danach bekam er eine bessere, bei der Gesellschaft, die die Flußfähre nach Jersey betreibt. Er hat elf Dollar die Woche verdient, und wir hatten ein Zimmer bei den Kais.«
Ich schwöre bei Gott, ich war nie auf die Idee gekommen, daß er wie jeder andere seinen Lebensunterhalt hatte verdienen müssen. In meiner Vorstellung hatte ich ihn immer als Redner auf einer mit grünem und orangem Fahnentuch dekorierten Tribüne gesehen, oder an einem Schreibtisch, an dem er »Our new Ireland beyond the waves« verfaßte.
Ned schien meine Gedanken gelesen zu haben. Er lächelte immer noch. »Das war nicht sein wahres Leben«, sagte er. »Sein wahres Leben begann um sechs, wenn er sich mit seinen Freunden in ihrer Stammkneipe treffen konnte, und in den letzten beiden Jahren vor dem Krieg war ich alt genug, um mitzugehen. Und es gab dauernd Komitees und Veranstaltungen und so etwas. Für ihn stand immer ein Stuhl auf der Tribüne, aber er wurde nur selten gebeten zu sprechen. Ich weiß noch, wie er einmal, als ich noch klein war, Thomas Francis Meagher vorgestellt hat, und Meagher beschrieb, wie er und die anderen aus der Strafkolonie in Van Diemens Land entkommen waren.«
Thomas Francis Meagher, das war nun wirklich ein Name, der Wunder wirkte, und sofort vergaß ich Neds armen Vater. Meagher vom Schwert, so wurde er in der Nation immer genannt, und sie brachten Stiche von ihm, ein gutaussehender Mann mit Uniform und Schnurrbart.
»Und John Mitchel«, sagte ich. »Ob dein Vater wohl John Mitchel gekannt hat?«
»In den letzten Jahren nicht mehr«, antwortete Ned. »Mitchel hat für die Südstaaten gekämpft.« Er zuckte die Schultern.
Er leerte sein Glas, als ob es mit Wasser gefüllt wäre, und ebensowenig Wirkung zeigte sich bei ihm, und ich schenkte ihm abermals ein. Beim Reden schweiften seine Augen durch das Zimmer, und ich überlegte mir, daß er zwar nach Hause gekommen sein mochte, daß er sich aber trotzdem in einem fremden Land befand. Er musterte die schweren Vorhänge, die vorgezogen waren, um den Abend auszuschließen, den Bücherschrank, das glühende Torffeuer, die braune Matte vor dem Kamin, den rot-blau gemusterten Teppich, die Drucke und Stiche an den Wänden und eines der beiden Ölgemälde, mit denen wir prunken konnten, der Zusammenfluß des oberen und des unteren Sees in Killarney, blaues Wasser, umrahmt von Eiche und Myrte, im Hintergrund die schöne Brücke mit den drei Bögen, Ich glaube jetzt, daß einem Fremden von Übersee das, was uns als am meisten vertraut und tröstlich erscheint, besonders fremd vorkommen muß, unsere Art, uns in unseren kleinen Zimmern gegen den Winter zu schützen, mit rotem Feuer und vorgezogenen Vorhängen und dicht zusammengeschobenen Sesseln.
Aber dann sagte er unvermittelt: »Als ich ankam, bin ich an Tullys Laden vorbeigegangen. Da arbeitet doch Robert Delaney, oder?«
»Stimmt«, antwortete ich. »Und da lebt er auch, in einem Zimmer über dem Laden, Tully überläßt ihm das als Teil seines Lohns.« Ich war nicht überrascht über sein Wissen, denn Bob war der Leiter unseres Zirkels in Kilpeder und war deshalb der Mann, zu dem Ned Kontakt aufnehmen mußte.
»Ich muß mit ihm reden, sobald sich das machen läßt«, sagte Ned. Und bei diesen Worten, oder eher durch ihren Tonfall, spürte ich im Zimmer die aufdringliche Anwesenheit von etwas, das hart und kalt war wie Metall.
Jetzt war ich mit Lächeln an der Reihe. »Das ist alles schon abgesprochen. Bob kommt heute abend her zum Tee. Der Laden hat jetzt Feierabend, aber er hat noch zu tun, und dann kommt er her.«
»Ihr beide seid also befreundet?«
»Stimmt, und Bob ist oft zum Tee hier. Wir sind eng befreundet, er und ich und Vincent Tully.«
»Tully vom Laden?«
»Der Sohn«, antwortete ich. »Der alte Dennis hat nichts mit der Organisation zu tun, und wenn er über Vincent Bescheid wüßte, dann würde er ihm bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Aber er hat sicher seinen Verdacht. Es ist eine kleine Stadt.«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Ned.
»Wir drei haben gemeinsam den Eid abgelegt«, erklärte ich. »Vor zwei Jahren, wir waren in Cork, und den Eid abgenommen hat uns…«
»Ich weiß, wer euch den Eid abgenommen hat«, fiel Ned mir ins Wort.
In diesem Moment brachte Mary einen Teller Butterbrote, gegen den ärgsten Hunger, und unser Gespräch wanderte zu anderen Themen – den hohen Häusern von New York und den Beschwernissen einer Seereise im Winter. Mir war sofort klar, und so blieb es dann auch, daß er Mary gegenüber auftaute, denn es gelang ihr sehr gut, Menschen aus sich herauszulocken und ihnen ihre Spannungen zu nehmen. Bei Ned hatte sie allerdings allerlei zu tun, er saß steif und unbeholfen da, hatte in einer Hand ein Stück Brot, die andere ruhte auf seinem Knie. Aber Mary redete drauflos, sie beugte sich in dem kleinen Sessel, der für sie reserviert war, vor, eine schmucke, adrette Gestalt in ihrem braunen, in der Taille eng anliegenden Kleid, und ihr Lächeln und ihre großen braunen Augen lockten ihn ins Gespräch.
Das gelang ihr, in dem sie ihm das Amerika beschrieb, das in unser aller Vorstellungen existierte, zum Teil geschaffen von Washington Irving und Fenimore Cooper, vor allem aber von den Briefen, die die vielen, die in den Jahren der Hungersnot übers Meer geflohen waren, zu Hunderten in jeden Teil Irlands schickten, bis unsere Vorstellung ein Gewirr von jungfräulichen Wäldern und Rothäuten in Mokassins geworden war, von ankernden Schiffen mit hohen Masten und Straßen, die von allen Rassen der Welt nur so wimmelten – von Portugiesen und Iren, Russen, Chinesen, Schweden. Lebhafte Sprache lag ihr sehr, und ihre Erzählung wäre eines Essays von Elia würdig gewesen und hatte auch dessen drollige Ironie, was Ned aber noch nicht klar war.
Aber dann kam Bob, und ich stellte die beiden einander mit dem Stolz eines Entdeckers vor. So klar, wie ich das Zimmer, in dem ich hier sitze, vor mir sehe, so sehe ich die beiden sich zum erstenmal gegenüberstehen, Ned groß und schwarz gekleidet, Bob mittelgroß, aber kompakt gebaut, kantiges, gleichmäßiges Gesicht unter kurzgeschorenen sandfarbenen Haaren, seine Augen so blau wie Neds Augen dunkel waren. Ihr Handschlag war Geschichte – nicht Patrick Prentiss’ Unversitätsgeschichte aus großartigem glatten Marmor, von Staatsmännern und Statuten und ausgerollten Karten von auf weiten Ebenen ausgefochtenen Schlachten, sondern die Geschichte unserer zukünftigen Leben, ihres, Marys und meines und das einiger Dutzend anderer.
»Wir haben Sie schon lange erwartet«, sagte Bob und bediente sich meiner Formulierung.
»Ich bin so gut wie ein anderer«, sagte Ned und zuckte die