Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
Moment unsicher, versuchte Prentiss, seine Tasse auf den flachen Tisch zu stellen, aber MacMahon nahm sie ihm ab.
»Wie hätte ich es vergessen können?« wiederholte er. »Es gab nichts Vergleichbares, bis an mein Lebensende nicht mehr. So war das für die meisten von uns. Nicht für alle. Für Bob Delaney natürlich nicht.«
»Auch nicht für Edward Nolan«, sagte Prentiss.
Rasch blickte MacMahon vom Tisch auf. »Nein«, sagte er. »Nicht für Ned.«
»Aber er war doch auch Ihr Freund, nicht wahr?« fragte Prentiss. »Sie und Delaney und…«
MacMahon schüttelte den Kopf. »Vincent Tully«, sagte er. »Bob und Vincent und ich waren die dicken Freunde, Die Drei Musketiere. Und Mary. Wir drei haben den Eid gemeinsam abgelegt, in Cork, ehe Ned nach Kilpeder zurückkam, um das Kommando zu übernehmen. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag in Cork und daran, wie wir drei vor dem Ortskommandeur den Eid ablegten. Sie wissen doch, wie das alles organisiert war, nicht wahr, Mr. Prentiss, Kommandozentrale und Ortskommandeure und alles andere?« Wieder lachte er. »Bei Gott, wir drei dachten, wir wären in das allerheiligste Mysterium des Lebens eingeweiht worden. In die Irish Republican Brotherhood.«
»Ich weiß ein bißchen darüber Bescheid«, antwortete Prentiss. »Aber nicht soviel, wie ich wissen müßte.«
»Da müssen Sie sich anderswo erkundigen«, sagte MacMahon trocken. »Denn hier beginnt und endet mein Wissen. Ich kann Ihnen sagen, wer der Ortskommandeur für Cork war; er ist schon viele Jahre tot. Joseph Tumulty aus Cork City, ein zu Wohlstand gekommener Schiffskrämer, und er hat uns im Büro hinter seinem Laden den Eid abgenommen, vor Fenstern, die auf die Lee hinausgingen. In späteren Jahren hat er damit geprahlt. Aber da war er schon das reine Bild von Ehrbarkeit, mit einem Haus in Montenotte. Er wurde ein schrecklicher alter Langweiler, um ehrlich zu sein, aber im Jahre 65, als er uns den Eid abgenommen hat, war er ein äußerst energischer Mann.«
»Alles besteht nur aus Schatten und Fragmenten«, meinte Prentiss. »Wer zur Kommandozentrale gehörte, und wo die Macht saß, und wer die Pläne machte und die Entscheidungen fällte. Deshalb möchte ich über eine lokale Aktion schreiben, über Clonbrony. Schließlich lebt Clonbrony weiter, in den Liedern und in allem anderen.«
»Nun gut«, erwiderte MacMahon. »Und warum auch nicht? Es ist alles lange her. Es sollte mehr davon geben, wenn Ihnen an der Ansicht eines ungebildeten Mannes etwas gelegen ist. Es ist meine große Liebe, Geschichte. Aber manchmal, wissen Sie, wenn ich an einem Winterabend in diesem Sessel sitze, bei einem guten Feuer und einem Becher Punsch, und mein Macaulay aufgeschlagen auf meinem Schoß liegt, dann frage ich mich, woher um Gottes willen er weiß, was er zu wissen behauptet. Unten auf jeder Seite sind kleine Fußnoten, wie Dornen auf einem Feld, aber sie können mich nicht überzeugen.« MacMahon schlug die Arme übereinander und lächelte boshaft.
In diesem Moment erkannte Prentiss endlich eine Ähnlichkeit, die ihn die ganze Zeit gequält hatte. Und zwar mit Oliver Richards, seinem Tutor, der äußerlich überhaupt keine Ähnlichkeit mit MacMahon hatte, obwohl beide große, braune, bebrillte Augen hatten. Ein stattlicher Mann, penibel, vorzeitig gealtert, seine Hände immer unterwegs zum Tabakstopf, zur Karaffe, zu den auf dem ganzen Tisch verstreuten Papieren. Um klarzustellen, was er meinte, sprang er aus seinem niedrigen Sessel auf, hüpfte auf kleinen, adretten Füßen zu seinen Bücherregalen, redete ununterbrochen, während seine Finger Titel hervorzogen. Er hatte, so weit Prentiss hatte feststellen können, niemals etwas geschrieben. Es gab auch in ihrer Herkunft keine Ähnlichkeiten, denn Richard war der Sohn eines Pastors aus Wiltshire, war mit siebenundzwanzig Fellow geworden, und seither war die Universität sein Leben.
»Ich habe einen Freund«, sagte Prentiss, »der Ihre Zweifel teilt. Er fragt sich, ob man überhaupt Geschichte schreiben sollte.«
»Ach«, sagte MacMahon in bestürztem Tonfall. »Das habe ich aber nicht gesagt. Ohne Geschichte wären wir kaum besser als die barfüßigen Heiden in Afrika. Es ist meine große Liebe«, wiederholte er, und seine Augen wanderten zu seiner Bücherwand.
Für Prentiss war MacMahon jedoch selber Geschichte, nicht die großartige Geschichte von Gibbon und Macaulay, ordentliche Absätze und angemessene Zitate, die durch die Jahrhunderte marschierten und Menschen, Könige, Ideen, Armeen aufwirbelten, sondern ein Fragment der Vergangenheit, ein Mann, der alt geworden war und dessen langes Leben sich auf den Erinnerungen an die wenigen Wochen des Aufstandes ablagerte.
»Für mich war es danach zu Ende«, sagte MacMahon. »Aber nicht für Ned Nolan oder Bob Delaney, und für den armen Vincent endete es dort am allerwenigsten. Ach, sicher habe ich meinen Eid noch jahrelang gehalten, und wenn mich irgendwer fragte, ob ich immer noch Fenier sei, dann habe ich ja gesagt, aber schließlich, in späteren Jahren, wußte ich soviel über ihre Schandtaten wie alle, die den Cork Examiner lesen. Danach kam noch soviel anderes, der Landkrieg, die Boykottkampagne, Home Rule und Parnell. Aber ich habe mich aus allem herausgehalten, wenn ich auch voller Stolz beobachtet habe, wie Bob immer höher stieg, Parlamentsmitglied und einer von Parnells Getreuen, wie sie genannt wurden. Und auch von Ned hörte man ab und zu oder sah seinen Namen. Aber ich habe mich aus allem herausgehalten, so weit das in solchen Zeiten möglich ist. Jetzt ist das alles Vergangenheit.«
»Ned Nolan«, sagte Prentiss, und ihm fiel auf, daß er sich nicht ganz wohl fühlte, wenn er diesen Namen aussprach. »Er war anders als Sie und die übrigen, nicht wahr?«
MacMahon sah ihn voll an, und ehe er antwortete, rückte er die Brille auf dem Nasenrücken zurecht. »Anders?« wiederholte er. »Nun ja, so anders als ich konnte er ja schließlich nicht sein, wissen Sie. Wir waren Vettern, sein Vater und meine Mutter waren Geschwister. Als er nach Kilpeder kam, hat er bei Mary und mir in der Chapel Street gewohnt und ist bis kurz vor dem Aufstand bei uns geblieben. Das war beim Prozeß ein großes Problem für mich, Anwalt Bourke hatte im Fall von Regina versus MacMahon wirklich keine leichte Aufgabe.«
»Aber Mr. MacMahon, wenn ich das so sagen darf, dann trennen einen Mann wie Sie und die Art Mann, zu der Nolan dann wurde, doch Welten.«
»Wurde?« wiederholte MacMahon. »Ich frage mich, Mr. Prentiss, was für eine Art Mann Sie wohl würden, wenn Sie sieben Jahre im Gefängnis von Portland verbrächten. In der Illustrated London News war einmal eine Zeichnung davon. Das Gefängnis war nur von außen zu sehen, ein graues, schreckliches Steingebäude, dahinter Felsen und ein kahler Strand. Die Unterschrift besagte, daß dieses Gefängnis Englands hartnäckigsten Verbrechern vorbehalten sei.«
»Ich weiß«, sagte Prentiss. »Ich habe gelesen, wie die inhaftierten Fenier behandelt worden sind. Es ist schwer zu akzeptieren. Natürlich war er das, vom englischen Standpunkt aus. Ein englischer Verbrecher.«
»Von seinem Standpunkt aus«, erwiderte MacMahon, »war er kein Engländer. Und was die Hartnäckigkeit betrifft, es war eine gute Schule, um hart zu werden. Er kam hart wie die Steine der Gefängnismauern wieder heraus. An solchen Orten wird an den Menschen ein fürchterliches Verbrechen begangen. Was in den Straßen von Kilpeder und in Clonbrony Wood geschah, geschah im Freien, unter dem Himmel, wo es von Gott und den Menschen gleichermaßen beurteilt werden konnte.«
»Vor Portland war er also anders?« fragte Prentiss. »Wissen Sie, das ist für alle, mit denen ich über Clonbrony gesprochen habe, der springende Punkt. Clonbrony ist das eine Ereignis des Aufstandes, von dem jeder gehört hat – es könnte als kühne Aktion bezeichnet werden; Sie waren alle erstaunlich tapfer, wissen Sie, wenn wir bedenken, wie gering Ihre Chancen waren. Und im Mittelpunkt allen Geschehens steht Ned Nolan, und was er wurde, und wie er endete.«
Nach einer Pause erhob MacMahon sich, ohne zu antworten, und ging zu einem der Fenster. Als er sich umdrehte, lächelte er.
»Vor einigen Jahren«, sagte er, »wimmelte es in Munster plötzlich von patriotischen Statuen. Die meisten waren das Werk eines Steinmetzen namens Bracken, aus Templemore, drüben in Tipperary. Ein großer Liebhaber von Hurling und der Wiederbelebung unserer Sprache und allem anderen, und inzwischen machte er Tonnen von St. Brigid-Statuen für die Kirchen und rebellische Pikenträger für die Marktplätze. Natürlich mußte auch Kilpeder sein 67er Denkmal haben, um den alten