Das Schlafrad. Gyrdir Eliasson
Gyrðir Elíasson
Das Schlafrad
Roman
Aus dem Isländischen von
Gert Kreutzer
Saga
Herausgegeben mit moralischer Unterstützung des Dunkelangstfonds
1
Mit dem Schlüssel meines alten Papas öffne ich die Tür. Sie hat sich während des Winters verzogen und klemmt, und als ich in das kleine Sommerhaus eintrete, stoße ich auf Massen toter Fliegen. Es liegt eine Schwere in der Luft, die Ahnung eines schattenhaften Lebens, das sich im Schlafzimmer dahinter breitmacht, aber ich bin ja nicht hierhergekommen, um schlimmen Vorahnungen nachzuspüren.
Die elektrischen Heizkörper sind kälter als Marmor, und mit dem Hahn, der das Haus mit Wasser versorgt, ist etwas nicht in Ordnung.
Das Motorrad steht in der Nähe der Veranda, voller Lehmspritzer von der Reise. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ganz allein in so ein Sommerhaus zu kommen, mit dem abgenutzten Koffer und einer Kolibri-Schreibmaschine in schwarzer Schutzhülle.
Unten murrt und knurrt das Meer, und als ich die Fensterläden öffne, kommt es mir vor, als sähe ich in weiter Ferne auf der grauen Wasserfläche zwei Augen, die mich anstarren. Ein ziemlich unangenehmes Gefühl, aber dann zucke ich nur mit den Achseln und denke mir, es ist bloß ein Seehund, einer von diesen alten Ägyptern, die es hier oben in den Nordmeeren umhertreibt.
Das blaugestrichene Häuschen reiht sich ein in die Wohnhäuser am Meeresstrand, und einen Steinwurf von der Landzunge entfernt ragt eine von der Brandung beschädigte Betonmole ins Meer. Der Pfarrer wohnt in dem Haus, das unmittelbar an meine Hütte grenzt. Es ist ein zweigeschossiges Gebäude, und die Fenster im oberen Stock sind wie geschaffen zum Sternebeobachten. Der Pfarrer ist mager wie eine Wäschestange, an die siebzig, versteht sich aufs Dichten. Es wird Spaß machen, mit ihm über den Maschendraht hinweg zu plaudern, wenn er frühmorgens herauskommt, um Wäsche aufzuhängen. Ich lese dann in einer alten Schwarte auf der Veranda, und der Pfarrer nimmt eine Wäscheklammer aus dem Mund und ruft zu mir herüber:
»Liest du schon wieder diesen verdammten Homer?«
»Nein.« Ich stehe auf und gehe zum Zaun, lasse die »Odyssee« zurück.
Das Haus auf der anderen Seite steht meistens leer, aber manchmal ist da ein Seemann mit einem großen, gelben Schiffshund und schickt Rauchkringel durch den Schornstein hinauf wie als Signal, daß er zurück ist. In seinem Garten steht hohes Gras und eine sorgfältig gestrichene Fahnenstange, die im rauhen Herbstwetter mehr als einmal auf das niedrige Dach herabfällt, wenn der Wind von den Bergpässen weht, Blitzattacken gegen das Dorf fliegt wie ein unsichtbarer Adler, es aber nicht mit den Krallen packt, sondern seine Klauen hineinschlägt. Vorletztes Jahr spazierte ich einmal in einer hellen Mittsommernacht mit einer Whiskyflasche zum Seemann hinüber. Er war gerade wach, nippte an seinem Wodka und brachte seinem Hund das Laufen auf den Hinterpfoten bei. Der Hund kam mit hängender Zunge über den Holzfußboden zu mir gewackelt, und ich streichelte ihm zärtlich den Kopf.
Jetzt habe ich die Fensterläden geöffnet und gehe hinein, um mir den ersten Kaffee des Sommers in dieser Wohnung zu kochen. Ich rechne damit, daß sich ein Schimmelbelag in der Kaffeedose gebildet hat, und es ist natürlich verrückt, einen Aufguß von uraltem Kaffeepulver trinken zu wollen, aber der Laden unten hat noch bis morgen früh geschlossen. Hier ist am Wochenende überhaupt alles geschlossen, sogar die Kirche.
Allmählich werden die Marmorelemente warm, und der Verdacht, es könnte hier ein Schlafzimmergespenst geben, verflüchtigt sich. Die Fliegen kauern sich zusammen und tun einen langen Schlaf im Staubsaugerbeutel.
2
In der Nacht erwache ich von einem Kratzen am Fenster und stehe auf, um hinauszusehen. Vom Meer her hört man ein Dröhnen, ich ziehe die Gardine zur Seite – da bietet sich mir ein unvergeßlicher Anblick. Vor dem Haus steht ein merkwürdig schuppiges, mit Muscheln bedecktes Seeungeheuer und niest oder schnaubt durchs Fenster hinein. Es ist ein Wesen von der Größe eines unterernährten Nashorns, und ich achte besonders auf die Augen: Sie haben einen so schrecklich flehenden Ausdruck. Einen Augenblick lang habe ich die Idee, ich sollte ihm einen Keks holen, aber dann werde ich auf einmal ziemlich ängstlich und greife nach einem der Seeigel, die auf dem Nachttisch liegen und die Papa letzten Sommer gesammelt hat. Diesen Seeigel stecke ich durch das offene Fenster und zwischen die Kiefer des Ungeheuers. Das beginnt zu kauen, aber dann niest es plötzlich wieder, ich kann meine Hand nicht schnell genug zurückziehen und bekomme stachligen Schleim auf meinen Handrücken. Dann bumst das Tier mit seinem Hinterteil an den Schuppen, daß der Giebel wackelt, geht dann im Nebel wieder hinunter zum Meeresufer, es sieht einsam aus, und ich glaube, ein leises Weinen zu hören.
Ich kann schlecht wieder einschlafen, mache neben mir die Lampe an, greife nach der »Odyssee« und lese eine Weile von den schluchzenden Helden. Lege das Buch weg und habe plötzlich das Gefühl, jenseits der Welt zu sein, mit einem schweren, dunklen Vorhang dazwischen.
Als ich eingeschlafen bin, träume ich von einem Pferd mit Flügeln und einer Sonnenbrille.
Am Morgen darauf, nach einer Tasse Kaffee, gehe ich hinaus auf den Rasen, um nachzusehen, ob vielleicht Spuren hinunter zum Meer führen, entdecke aber nichts, außer undeutlichen Tritten um einen Wäschepfahl herum. Da kommt der Pfarrer im schwarzen Anzug auf seinen Rasen heraus, wendet sich mit feierlicher Miene dem großen Esso-Öltank neben dem Konsum zu und bekreuzigt sich. Von diesem Tank aus hat man einen guten Blick auf all die merkwürdigen Bergformationen, die den Fjord umschließen.
»Ich bin heute nacht von einem Seeungeheuer am Fenster aufgewacht«, sagte ich zum Pfarrer. Er schlug seine Pfeife an einem Pfahl aus, verzog keine Miene, stopfte und zündete sie an, und jetzt erinnerte er an einen schlanken schwarzen Schornstein auf einem unterirdischen Haus, als er so dastand und der Rauch von ihm in die Höhe stieg. Er antwortete zögernd nach einer Weile: »Das war wohl die Kuh vom Ásgrímur hier unten am Strand, sie hat Schlafstörungen und so einen merkwürdigen Schorf an der Lende.«
»Das war verdammt noch mal keine Kuh«, rutschte es aus mir heraus, aber dann nahm ich mich zusammen und wiederholte: »Das war keine Kuh.«
Da ruft die Frau des Pfarrers mit freundlicher Stimme nach ihm; er möchte doch zum Abwaschen hineinkommen, und wir verabschieden uns, er geht ins Haus und ich hinunter zum Konsum. Ich grüße die Schirmmützenmänner auf dem Vorplatz und den Hund, der dösend auf der Schwelle liegt.
Drinnen riecht es wie immer nach Farbe, Äpfeln, Stockfisch und Rosinen. Ich kaufe neuen Kaffee und was man sonst so braucht, um für eine begrenzte Zeit einen Haushalt an einem neuen Ort einzurichten. Dann gehe ich wieder nach Hause. Es sieht mir nicht danach aus, als wolle es aufklaren, und ich habe keine Lust, mich in diesem feuchten Nebel draußen herumzutreiben, denke, es ist auch gar nicht ungefährlich, wenn eine Welle herangerollt kommt und keiner weiß, was sich darin versteckt. Vielleicht plantscht ja hier irgendwo eine schlaflose Kuh herum. Und der Strand ist bedeckt von kantigen, kohlschwarzen Felsbrocken, bewachsen mit glitschigem Tang, der aussieht, als würde er herumtasten, wenn ihn das Meer überrollt.
Als der Tag sich dem Ende neigt, mache ich doch zum Schein einen Spaziergang durch das Dorf, zwischen gelben und lila Häusern, ein Teil von ihnen mit Luken vor den Dachfenstern, an Tagen mit gutem Wetter kann man alte Männer beobachten, die das Wellblech festnageln, das sich beim letzten Unwetter gelöst hat, sie haben Feldstecher dabei und halten Ausschau nach Booten oder Rentieren auf den Bergen. Ich habe eine gelbe Regenjacke an, und es hat angefangen zu regnen, ich kann einfach nicht anders und hoffe, daß einige Dächer ein wenig undicht sind.
Ich treffe eine ältere Frau mit Kinderwagen, sie hält an und begrüßt mich, und wir plaudern eine Weile miteinander über die Sonne und die Fische, dann ist sie fort, in den Nieselregen verschwunden mit ihrem schlafenden Enkelkind.
3
Eine helle Sommernacht, aber nicht still, denn man hört dumpfes Motorengedröhn von