Das Schlafrad. Gyrdir Eliasson
kommt ein blondes Mädchen zu mir auf die Veranda herauf, vielleicht fünf Jahre alt.
»Hallo!«
»Hallo«, antworte ich, widerwillig vom Buch aufsehend.
»Du hast ein komisches Motorrad«, sagt sie.
»Findest du?«
»Meine Schwester hat einen Weisheitszahn, der hat drei Spitzen wie drei Zähne.«
»Hat sie dich dann nicht gebissen?« frage ich.
»Nee. Sie beißt nur, wenn sie sehr müde ist.«
Ich streichele ihr übers Haar, unendlich sanft. Dann ist die Kleine verschwunden, über den Grasstreifen zwischen den Nachbarhäusern hinauf und hinein in die zweigeschossige Bruchbude ganz oben im Dorf. Hinter diesem Haus steht ein Rodelschlitten, einsam und verlassen in der glühenden Sommersonne. Die Luft ist schrecklich schwül, wenn man nach ihr greift, bleiben die Finger fast kleben. Jetzt nehme ich die Sonnenbrille ab und sehe in den Feuerball.
Der Mittag naht.
Jenseits des Fjordes sieht man die bunten Berge aus hellem Lavagestein, nur ein vereinzelter Buckel aus anderem Gestein ragt aus den Geröllhängen. Jenseits dieser Berge sind Buchten, an denen niemand mehr wohnt. Ich hatte schon lange den Wunsch, einmal dorthin zu kommen, aber im vorletzten Jahr ist nichts daraus geworden.
»Das ist ein verzaubertes Land«, pflegte mein alter Papa zu sagen.
In den Herbstnächten wälzen sich die Gespenster über die Pässe, hinunter zum Dorf, im Gefolge des wabernden Nebels. Sie stellen sich in Schlachtreihe auf der alten Steinbrücke über dem Fjordfluß auf, und es ist nicht gut, ihnen im Dunkeln zu begegnen. Heute bin ich nicht zum Schreiben aufgelegt, ich fühle eine Unruhe in mir und kann mich nicht so recht für die Schreibmaschine erwärmen.
Augenblicklich entschließe ich mich, eine der Buchten aufzusuchen, und zwar die nächstliegende.
In den Rucksack stopfe ich die Dinge, die ich für den Ausflug brauche: eine Thermoskanne mit Pulverkaffee, eine Tütensuppe, Stockfisch, Blockschokolade, und einen kleinen Hammer packe ich auch ein und hoffe, daß er die Kanne nicht zerschlägt. Ich habe gehört, in der Bucht gebe es eine Hütte für Schiffbrüchige, und darin einen Kessel und Töpfe, einen Gaskocher.
Der Helm wandert grünschimmernd auf den Kopf, und ich sause los durch das Dorf auf meinem blauen Motorrad, einer Suzuki TS 400. Brumm. Hahnenfuß und Löwenzahn stehen in den Gärten und auf den Wiesen in voller Blüte, die Häuser leuchtendgelb und violett, Hühner purzeln hier und da über die Straße, ein Fahrrad liegt am Wegesrand, ein Hund schlabbert aus einem Abwassergraben in der Nähe der Grassodenhütte. Und da steht das Haus mit dem Schaukelstuhl und dem blauen Bett darin. Gardinen sind vor das Fenster gezogen. Das Mädchen habe ich seit jener Nacht nicht wiedergesehen. Ich hatte sie nicht einmal nach dem Namen gefragt. Ich hoffe, sie ist nicht weggegangen. In Gedanken küsse ich sie, während ich vorbeisause.
Das Dorf verschwindet hinter einer Anhöhe aus dem Rückspiegel, die Gespensterbrücke taucht weiter vorne auf, ich sehe vor mir, wie sie dichtgedrängt auf der Brücke stehen, sich ausruhen vor der letzten Etappe, Beschwörungsformeln murmeln und mit düsterer Miene ins Dunkle starren, zum Meer, und wie sie dem schweren und saugenden Rauschen der Brandung lauschen. Dann gleiten sie wieder fort und schalten dem Dorf den Strom aus.
Den Berghang hinauf führen Traktorspuren, ich lasse das Motorrad wie einen Teufel durch unzählige Kurven hinaufrasen, dieser 33-PS-Maschine macht so eine kleine Steigung nichts aus. Schneller als gedacht bin ich oben auf dem Paß. Ich halte an und steige ab.
Tiefe Stille hier oben.
Es brummt und rauscht in meinen Ohren. Mir erscheint das Bild einer Allmacht vor Augen als ein dröhnendes, durchsichtiges Kraftwerk hinter den sieben Bergen, aber ich wische es fort, nehme einen scharfkantigen Basaltbrocken und werfe ihn, so daß alles Glas des Kraftwerks zerbricht. Aber das Dröhnen im Kopf hält an.
Der große Felsen, unter den ich mich setze, heißt Zufluchtsstein. Es tut gut, ihn zu streicheln, er ist warm vom Sonnenschein, rauh, wie es Gürteltiere sein sollen, blickt stumm und ruhig hinunter ins Tal und auf die See hinaus.
»Du bist stumm wie ein Stein«, sage ich zu ihm.
Um den Felsen herum wachsen einige Pflanzen, darunter Blumen, deren Namen ich nicht kenne, ich pflücke eine davon und vertreibe mir die Zeit damit, ihr die Blütenblätter auszuzupfen, ohne jedoch zu sagen sieliebtmichsieliebtmichnicht –
Dann öffne ich meinen Rucksack und trinke Kaffee, direkt aus der Kanne. Eine erquickende Pause; erholt stehe ich auf, blicke empor in den blauen Himmel und atme tief durch.
Ich starte das Motorrad und kämpfe mich erneut durch die Traktorspuren nach oben. Die Bucht breitet sich vor mir aus, als ich auf die Paßhöhe komme. Mir kommt der Gedanke, ich sollte besser nicht hinunterfahren, denn sogar am hellichten Tag machen Gespenster mir angst. Obwohl ich nicht weiß, wo sie sich bei diesem Licht verstecken könnten, nirgends sieht man einen Unterschlupf für Dunkelwesen.
Mit der frischen Meeresbrise weht der Duft von Heidekraut herauf und mischt sich mit den Auspuffgasen meines Zweitakters. Mitten auf dem Weg zur Bucht hin kommt mir ein Rentier entgegen, torkelnd und zerstreut, denn es nimmt mich kaum wahr, trotz des Motorenlärms. Es heißt, daß sie manchmal in ganzen Gruppen hier auftauchen, aber dieses Rentiermännchen ist offensichtlich ein Einzelgänger, vielleicht ein Geächteter. Ich denke darüber nach, wie merkwürdig es sein muß, ein so verzweigtes Geweih zu haben, wie Baumäste aus dem Kopf ragend, und manchmal muß es traurig sein, allein unten an der Bucht zu stehen, wenn es Abend wird, in Sprühregen und Halbdunkel, nicht weit von den verfallenen Höfen entfernt, wenn die Hörner weich und zu Fühlern geworden sind.
Wir begegnen uns, ich fahre langsam, lasse den Motor im ersten Gang laufen; das kommt dem Rentier so merkwürdig vor, daß es sich entschließt, hinter mir her zu trotten, den Pfad hinunter, wie ein riesiger Grauhund mit Hörnern. Es geht mir auf die Nerven, das Tier ständig im Rückspiegel zu sehen, schnelleres Fahren ist aber auch nicht ratsam wegen der vielen Kurven, die der Weg macht, ich rufe ihm zu: »Du bist bei mir in schlechter Gesellschaft, mein Bester!«
Ich halte abrupt an, greife in den Rucksack auf dem Gepäckträger und hole einen Hammer hervor. Ich gehe zu einem Stein am Wegrand. Das Ren bleibt währenddessen in einem gewissen Abstand stehen, etwas außer Atem. Ich schlage mit dem Hammer auf den Stein, daß die Funken fliegen. Der Knall gibt ein Echo. Das reicht, um das Ren zu verscheuchen. Ich beobachte, wie sich die spitzen Hörner entfernen.
Es ist lange her, daß Kinder hier bei dem alten Hof auf der Wiese gespielt haben, und damals sahen die Gebäude noch anders aus. Jetzt sind sie zusammengefallen. Hier ist der Unterschlupf für das Dunkelvolk an Sommertagen.
Ich hatte die Thermoskanne an dem schweigsamen Felsen oben am Paß fast ausgetrunken und öffne nun die Tür der Hütte unten am Flußufer, um dort neuen Kaffee zu kochen. Diese Hütte ist sowohl für Wanderer wie für Schiffbrüchige vorgesehen. Innen riecht es nach Schaffellen. Alles ist sehr gemütlich, und ich habe keine Probleme mit dem Gasherd, das Wasser kocht, der Wollgeruch weicht den durchsichtigen, blinden Kaffeeschlangen, die sich in alle Ecken ringeln.
Als ich Kaffee getrunken und den Proviant verzehrt habe, gehe ich hinunter auf den Sandstrand. Ziehe die Schuhe und Socken aus und wate in den eiskalten Fluß, ärgere mich, daß ich keine Angel mitgenommen habe, um sie nach Fischen auszuwerfen. Gleich oberhalb der Furt ist ein tiefer, blaugrüner Kolk mit unterspülten Ufern.
Der Sandstrand dunkel und gewaltig breit, darüber Flügelrauschen und ständiges Vogelgeschrei. Diese Vögel scheinen alle zu wissen, wohin sie ziehen, sie fliegen mit sicheren Flügelschlägen, nachdenklich, trotz ihrer kleinen Köpfe.
Meeresrauschen.
Ich laufe über den Sand, habe die Schuhe wieder angezogen, ein Urmenschengefühl ergreift mich. Ich gehe ganz hinab zum Wasser, beobachte, wie die Woge in sich zusammenfällt. Ich fühle, daß es mir nur einen Augenblick lang gelingt, einen tieferen Blick in mein eigenes Inneres zu werfen, als die Wassertiefe die schweren, sonnenweißen