Praxis und Methoden der Heimerziehung. Katja Nowacki
eine Alternative zur geschlossenen Unterbringung, welche pädagogisch fragwürdig und in der Regel ineffizient ist. Es stellt außerdem eine Alternative zur völligen pädagogischen Resignation und Hilflosigkeit dar, bei der man den jungen Menschen einfach der Straße und dem Schicksal überließe.
Waren es zu Beginn einer stationären Erziehungshilfe im Jahr 1991 noch 437 junge Menschen, die in einer eigenen Wohnung betreut wurden (1,8 % aller begonnenen stationären Erziehungshilfen) stieg diese Zahl auf 2.282 im Jahr 2017 an (4,4 % aller begonnenen stationären Erziehungshilfen) (Statistisches Bundesamt 1997/2018b).
Erziehungsstellen
„Erziehungsstellen erweitern den sozialen Kosmos der Erziehenden um ein Kind, das auch die Schnittstelle zu einer anderen Familie darstellt – sie sind dessen soziale Familie“ (Sternberger 2002, S. 206).
Erziehungsstellen nehmen einen Platz zwischen Heimerziehung und Pflegefamilie ein. In Erziehungsstellen, die im Rahmen der Heimerziehung nach §34 KJHG auch als Sozialpädagogische Lebensgemeinschaften bezeichnet werden, können in der Regel ein bis zwei (bisweilen auch drei) Kinder oder Jugendliche aufgenommen werden. Es handelt sich dabei um solche, die spezielle pädagogische Bedürfnisse und Entwicklungsdefizite aufweisen, welchen im Rahmen der üblichen Heimerziehung nicht ausreichend differenziert begegnet werden kann. Andererseits oder zugleich können es auch Kinder oder Jugendliche sein, die aufgrund ihres Verhaltens zu einer großen Belastung für die Heimgruppe werden und dadurch in eine Außenseiter- und Negativposition geraten würden. Erziehungsstellen sind in unterschiedlichen Organisationsformen vorhanden. In einigen Erziehungsstellen sind für diese Arbeit langfristig freigestellte pädagogische Mitarbeiter*innen eines Heimes tätig, deren Gehalt – in Abhängigkeit von der Kinderzahl – vom Heimträger weiterbezahlt wird. In anderen Erziehungsstellen wird beispielsweise auf der Grundlage von Kooperations- oder Honorarverträgen gearbeitet.
Erziehungsstellen unterscheiden sich von der Pflegefamilie durch ihre geforderte spezifische Professionalität. Die jungen Menschen in Erziehungsstellen weisen in der Regel besonders gravierende Defizite, Entwicklungsrückstände, traumatische Erfahrungen und Verhaltensstörungen vor dem Hintergrund schwierigster Verhältnisse in ihren Herkunftsfamilien auf. Sie sind daher auf eine „grundlegende psychische und soziale Stabilisierung“ angewiesen, die ihnen Erziehungsstellen langfristig bieten können (Moch/Hamberger 2003, S. 106). Auch bei Pflegefamilien gibt es inzwischen Konzepte, in denen mindestens ein Pflegeelternteil eine fachliche Ausbildung hat und die Familie intensiv professionell begleitet wird. Auch hier werden in der Regel eher Kinder untergebracht, die aufgrund ihrer Geschichte Verhalten zeigen, das Familien an ihre Grenzen bringen kann (s. auch Nowacki & Remiorz 2018, S. 14, 148).
Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung
Heimerziehung ist schon seit längerer Zeit nicht mehr auf die traditionellen Institutionen Heim und Wohngruppe begrenzt, denn es zeigte sich immer wieder, dass bestimmte Jugendliche durch alle Raster fallen und innerhalb dieser Institutionen nicht gefördert werden können. Es handelt sich um junge Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation und Biografie mit sich selbst und der personalen und sachlichen Umwelt nicht zurechtkommen, die wegen ihrer Verhaltensweisen immer wieder anecken, die oftmals gescheitert sind und keine persönlichen Perspektiven besitzen. Es ist möglich, die Intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfe im Rahmen der eigenen Wohnung eines jungen Menschen anzubieten, in besonderen Fällen auch innerhalb der eigenen Familie. Die individuelle sozialpädagogische Vorgehensweise sollte bei dieser schwierigen Aufgabenstellung vor allem durch sensibles Einfühlungsvermögen, Toleranz und eine gleichzeitige klare Haltung geprägt sein. Gewissermaßen eine Vorläuferrolle der Intensiven sozialpädagogischen Einzelfallhilfe nimmt die Erlebnispädagogik ein. Seit Ende der 1970er-Jahre entwickelten sich unterschiedliche Projekte für junge Menschen in sehr schwierigen Lebenslagen, die sich auch als Alternative zur geschlossenen Heimerziehung verstanden. Längere Gebirgshüttenaufenthalte unter einfachsten Bedingungen, mehrmonatige Segelfahrten oder Saharadurchquerungen sind Schlaglichter der Erlebnispädagogik. Diese versucht durch intensive Naturerlebnisse, durch die Betonung der jugendlichen Aktivität, durch natürliche Grenzerfahrungen, durch gruppendynamische Prozesse und intensive Einzelgespräche zu helfen, vielleicht erstmals eine eigene Identität zu entwickeln, sich in der Welt trotz aller Zwänge und Pflichten besser zurechtzufinden und vor allem persönliche Perspektiven aufzubauen. Allerdings sind Auslandsmaßnahmen im Zuge der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung seit der Novellierung des KJHG vom 1. Oktober 2005 nur noch unter bestimmten Bedingungen zu realisieren. Damit reagierte der Gesetzgeber auf die oft vorgebrachte Kritik gegenüber solchen Auslandsreisen und Auslandsaufenthalten. § 27 Absatz 2 wurde ergänzt:
„Die Hilfe ist in der Regel im Inland zu erbringen, sie darf nur dann im Ausland erbracht werden, wenn dies nach Maßgabe der Hilfeplanung zur Erreichung des Hilfeziels im Einzelfall erforderlich ist.“
Insgesamt werden erlebnispädagogische Projekte im Ausland nur dann vereinbarungsfähig sein, wenn sie bestimmte qualitative Standards gewährleisten.
Waren es am 31. Dezember 1991 erst 457 junge Menschen, welche die Erziehungshilfe „Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung“ erhielten, stieg diese Zahl 2017 auf 4.815 neubegonnene Hilfen an (Statistisches Bundesamt 1997/2018b).
Flexible Erziehungshilfen
Bei Kindern, Jugendlichen sowie deren Angehörigen, welche Erziehungshilfen in Anspruch nehmen, ist nicht nur das familiäre System zu berücksichtigen, sondern ebenso das System der praktizierten Erziehungshilfe bzw. die Systeme mehrerer Erziehungshilfen, wenn diese gleichzeitig oder aufeinanderfolgend gewährt werden. Alle mit einem bestimmten Kind befassten helfenden Systeme müssen miteinander kooperieren, sie sind im Idealfall als Netzwerk zu verstehen. Diese Kooperation erscheint nicht nur wesentlich, um Absprachen tätigen zu können und um Gegensätzliches zu vermeiden, sondern auch, weil die Mitglieder aller beteiligten Systeme ihre jeweiligen Interaktionen und Reaktionen im konkreten Zusammenhang mit dem Hilfeprozess verstehen müssen. Das KJHG sieht bei der Gewährung erzieherischer Hilfen, die voraussichtlich über einen längeren Zeitraum andauern werden, auch aus dieser Begründung heraus, Erziehungskonferenzen vor.
Alle Systeme wollen verändernd auf das Kind und seine Familie sowie das Lebensumfeld einwirken. Wenn sie dies in isolierter Vorgehensweise praktizieren, dann sind weitere Schwierigkeiten und pädagogische Misserfolge zu erwarten. Eine Kooperation zwischen Familie und unterschiedlichen Hilfen zur Erziehung setzt nicht nur Absprachen und gemeinsame Zielfindungsprozesse voraus, sondern ebenso das Verständnis, dass die verschiedenen Systeme gemeinsam ein großes Sozialisationsfeld bilden, in welchem die individuellen Handlungen und Reaktionen sich ständig wechselseitig beeinflussen. Entsprechend muss die Partizipation der Kinder, Jugendlichen und Familien an der fortlaufenden Ausgestaltung und Passung der Hilfen berücksichtigt werden.
Negative Effekte könnten eintreten, wenn verschiedene Formen voneinander relativ isoliert vorgehender Erziehungshilfen sich als notwendig erweisen. Andere Organisationsformen könnten negative Auswirkungen wie z. B. Informationsmängel, mangelnde Transparenz und Absprachen, gegensätzliche Interventionen und Abbrüche entweder verringern oder in ihrer Entstehung möglicherweise auch ganz verhindern. Es bietet sich daher an, verschiedene erzieherische Hilfeformen von einer Institution aus zu praktizieren, sodass Betroffene kontinuierlich durch ein kleines Team von Fachkräften betreut werden. Mit einem notwendigen Wechsel der Erziehungshilfe wären dann kein Wechsel der Institution und keine „Abbrüche“ mehr verbunden.
„Ziel ist es, Spezialisierungen und Separierungen einzelner Hilfeformen aufzubrechen und diese wieder zusammenzuführen“ (Frankfurter Kommentar 2019, S. 361).
Wie bereits in den 1970er-Jahren öffnen sich Träger und Institutionen der Heimerziehung auch aktuell wieder für neue Aufgabengebiete. Unter dem Kostendruck der öffentlichen Haushalte und der Notwendigkeit stabiler Belegungszahlen ist diese Öffnung auch unter dem Gesichtspunkt einer Überlebensstrategie zu verstehen. So bieten beispielsweise