Der neue Dr. Laurin Box 2 – Arztroman. Viola Maybach
dass wir nach dem Busunglück viele der verletzten Kinder behandelt haben. Jedenfalls haben uns schon mehrere Eltern darauf angesprochen und gesagt, dass sie so von der neuen Praxis gehört haben. Und wir haben ja auch Anzeigen aufgegeben. Noch ist es einigermaßen ruhig, aber wir haben trotzdem zu tun, Carolin vor allem, die sich noch in die Computerprogramme einarbeiten muss, mit denen wir arbeiten wollen. Maxi und ich nutzen die Zeit, wenn keine Patienten da sind, um uns besser kennenzulernen, und ich vertiefe mich auch immer mal wieder in Fachliteratur. Alles Amtliche ist jedenfalls erledigt, jetzt muss nur noch die Praxis richtig ins Laufen kommen.«
»Und unser Haushalt«, murmelte Leon, als sie die Klinik verließen. »Weißt du, was mir vorher nicht klar war?«
»Wie sehr ich euch verwöhnt habe?«
Antonia hatte einen Scherz machen wollen, aber ihr Mann reagierte ganz ernst darauf. »Ja«, gestand er. »Ich hatte keine Ahnung, wie sehr wir alle daran gewöhnt sind, dass du unseren Alltag organisierst. Die wenigen Male, als du morgens nicht da warst, ist ja sofort Chaos ausgebrochen. Dabei dachte ich, dass unsere Kinder ziemlich selbstständig sind.«
»Das sind sie ja auch, nur nicht in allen Bereichen. Da, wo es unbequem ist, stellt man sich gern mal dumm an, damit jemand anders sich erbarmt und das erledigt, was einem selbst lästig ist.«
»So siehst du das?«
»Jawohl, so sehe ich das! Und ich bin sehr gespannt darauf, wohin die Reise geht, das muss ich schon sagen.«
Leon seufzte wieder, sagte aber nichts mehr. Er selbst hatte es ja auch genossen, dass Antonia immer zu Hause gewesen war und alles erledigt hatte, was er selbst als lästig empfand …
*
Selina Özer fiel ihrer Tante um den Hals. »Du bleibst also wirklich in München? Die Entscheidung ist gefallen? Ich habe es bis jetzt nicht glauben können, dass du das durchziehst.«
Linda Erdem lächelte. »Wie das klingt: ›durchziehen‹! Ich war einfach nicht sicher, wie gut sich Leon Laurin an mich erinnern würde. Und ich konnte ja nicht damit rechnen, dass er für eine Neurochirurgin Verwendung haben würde.«
»Du warst also zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, stellte Selina zufrieden fest.
»Ja, so könnte man es ausdrücken. Nun muss ich sehen, wo ich in den nächsten Monaten bleibe. So lange kannst du mich nicht bei dir aufnehmen, und für einen so langen Zeitraum kommt ein Hotel auch nicht infrage.«
»Wieso in den nächsten Monaten? Was ist denn danach?«
Linda ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich habe noch keine festen Pläne für die Zukunft, Kind. Das Einzige, was ich sicher weiß: Ich muss arbeiten, meine Tage brauchen eine Struktur, denn sonst werde ich verrückt. Und ich brauchte einen Neuanfang, weit weg von dem leeren Haus, in dem ich in den letzten Monaten ganz allein gelebt habe. Deshalb bin ich hier. Aber das gilt für den Augenblick. Wie es in ein paar Monaten aussieht, wenn ich innerlich zur Ruhe gekommen bin, weiß ich jetzt noch nicht.«
»Ich hatte angenommen, du würdest nach Afrika gehen, sobald du keine familiären Verpflichtungen mehr hast, davon hast du so oft gesprochen.«
»Vielleicht mache ich das ja noch. Wie gesagt, die Entscheidung für die Kayser-Klinik in München ist keine Entscheidung für mein gesamtes weiteres Berufsleben.«
»Du kannst gern hier bei mir bleiben, bis du etwas klarer siehst«, bot Selina an.
Linda betrachtete ihre hübsche Nichte, die ihr immer besonders nah gewesen war. Selinas Offenheit, ihr Temperament und ihre Begeisterungsfähigkeit erinnerten sie an sich selbst als junge Frau. Das Leben lag noch vor ihr, und sie war bereit, es auszukosten.
»Ich danke dir für das Angebot, aber es wäre für uns beide nicht gut. Wir haben unterschiedliche Lebensrhythmen, wir würden uns bald schrecklich gegenseitig auf die Nerven gehen. Das möchte ich lieber vermeiden. Ich sehe mal, ob ich eine möblierte Wohnung finde. Manchmal gehen Leute ja nur für eine begrenzte Zeit weg. Das wäre für mich ideal.«
»Und was ist mit deinem Haus in Heidelberg? Deinen Möbeln, deinem ganzen Hausstand?«
»Eine Freundin von mir ist mit ihren beiden Kindern eingezogen. Sie suchte sowieso gerade eine Wohnung, das hat sich also günstig ergeben. Sie wird dortbleiben, bis ich eine Entscheidung gefällt habe, wie es mit mir weitergehen soll.«
Eine Weile blieb es still, bis Selina sagte: »Ich hoffe, du bleibst in München!«
*
»Wieso bist du auf, Mama?«, fragte Miro Flossbach erschrocken, als er nach Hause kam und seine Mutter in der Küche sitzen sah. Sie trug einen verschlissenen Morgenmantel, die Haare hingen ihr ungewaschen bis auf die Schultern, ihr Gesicht war bleich, unter den Augen lagen dunkle Schatten.
»Du sollst doch im Bett bleiben, hat der Arzt gesagt. Mit einer Grippe ist nicht zu spaßen. Leg dich wieder hin, bitte.«
Anke Flossbach lächelte müde. »Ich habe jetzt zwei Wochen lang nur im Bett gelegen, Miro, ich muss wieder auf die Beine kommen! Und wenn ich noch länger krankgeschrieben bin, verliere ich meinen Job, du weißt doch, wie das heute zugeht.«
Anke war Kassiererin in einem Supermarkt. Früher hatte ihr die Arbeit Spaß gemacht, aber je älter sie wurde, desto mehr litt sie unter dem Stress. Sie mussten schnell sein, durften keine Fehler machen und sich natürlich niemals aus der Ruhe bringen lassen, wenn ein Kunde anfing zu pöbeln. Früher war das nur selten vorgekommen, mittlerweile passierte es häufiger. Kurz bevor sie krank geworden war, hatte es noch einen sehr unangenehmen Zwischenfall mit einem Mann gegeben, der ausgerastet war, weil eine alte Frau in ihrem Portemonnaie zu lange nach Kleingeld gesucht hatte.
Auch ihr Mann Rainer hatte einen anstrengenden Job: Er war LKW-Fahrer. Zwar verdiente er gutes Geld, aber die Touren wurden immer länger und anstrengender, und sicher war sein Job auch nicht. Dazu kam der immer wahnwitziger werdende Verkehr und der ständige Druck, die Waren rechtzeitig zu liefern. Nicht selten schlief er zu wenig, um die Zeit wieder aufzuholen, die er durch einen Stau oder längere Kontrollen an den Grenzstationen verloren hatte.
Ihre Kinder sollten es einmal besser haben, das war ihr erklärtes Ziel. Miro war der Erste in der Familie, der studierte: Maschinenbau. Und auch die kleine Flora, die Nachzüglerin, die sie vierzehn Jahre nach ihrem Sohn bekommen hatten, war eine gute Schülerin. Aber sie hatte auch ihren Mädchentraum gehabt, und der war es gewesen, eine Ballettschule zu besuchen. Diesen Wunsch hatten ihr die Eltern nun endlich erfüllt, allen zusätzlichen Kosten zum Trotz. Flora war selig – und offenbar sehr begabt.
»So schnell verlierst du deinen Job nicht«, widersprach Mira, als er sich auf einem Stuhl niederließ. »Du warst noch nie krank, Mama, also kurier dich bitte richtig aus, sonst liegst du gleich wieder auf der Nase.«
Sie sah ihn ängstlich an. »Aber du hast Flora jetzt schon zwei Mal zur Ballettstunde gebracht und wieder abgeholt. Ich weiß doch, dass du eigentlich lernen müsstest. Deshalb dachte ich, ich übernehme das am Donnerstag wieder.«
»Ich schaffe das schon, mach dir mal um mich keine Sorgen«, sagte Miro. »Das Wichtigste ist, dass du wieder auf die Beine kommst, also tu mir den Gefallen und leg dich wieder hin.«
»Koch uns einen Tee, ja?«, bat Anke. »Ich würde gerne noch einen Moment hier sitzen bleiben.«
Miro setzte also Teewasser auf. Ihm selbst ging es auch nicht besonders gut, er fühlte sich seltsam schlapp und bekam neuerdings immer mal wieder Kopfschmerzen. Er konnte nur hoffen, dass seine Mutter ihn nicht angesteckt hatte. Eine Grippe konnte er zurzeit überhaupt nicht gebrauchen.
Das Studium machte ihm Spaß, dennoch fühlte er sich an der Universität nicht rundum wohl. Es war eine Welt, in die er eigentlich nicht gehörte, so empfand er es. Er war mit Eltern groß geworden, die keine Bücher lasen, die immer dort einkauften, wo es gerade am preisgünstigsten war, weil sie jeden Euro, den sie mühsam verdient hatten, mehrmals umdrehten, bevor sie ihn ausgaben. Eltern, die beide seit Jahren davon träumten, sich einmal einen günstigen Urlaub auf Mallorca leisten zu können, wo sie zwei Wochen lang nichts anderes