Der neue Dr. Laurin Box 2 – Arztroman. Viola Maybach
betrat. »Ich habe ins Schlafzimmer geguckt, aber sie hat nichts davon gemerkt.«
»Hallo, Flo. Ja, sie schläft, sie hat ein Bad genommen, danach ging es ihr ein bisschen besser. Wie war’s bei deiner Freundin?«
Flora strahlte. »Ganz toll. Zuerst haben wir gespielt, aber dann haben wir die Schritte geübt, die wir neu gelernt haben. Willst du mal sehen?«
»Unbedingt.«
Flora stellte sich in Positur, ganz aufrecht, den Kopf erhoben. Sie war ein zartes Kind mit feinen Gesichtszügen und großen blauen Augen. Ihre schönen Haare hatte sie, wie beim Ballett üblich, streng zurückgebunden und zu einem Knoten geschlungen. Normalerweise trug sie ihre blonden Locken offen.
In einer anmutigen Geste hob sie die Arme, und dann vollführte sie mit großem Ernst einige Schritte, die irgendwie lustig aussahen, aber er hütete sich, das laut zu sagen. Wenn es ums Ballett ging, war Flora empfindlich.
»Sieht sehr elegant aus«, bemerkte er, als sie ihn auffordernd ansah.
»Das waren Katzenschritte«, sagte sie. »Auf Französisch heißt das ›pas de chat‹, das spricht man ›padöscha‹ aus. Wusstest du das?«
»Ja, ich glaube, das habe ich mal gelernt«, sagte Miro.
»Schön, nicht? Wenn man Musik dazu hört, ist es noch schöner.«
»Ich hoffe, ich darf irgendwann mal bei euch in der Schule zugucken, wenn ihr übt«, sagte er. »Als ich dich letztes Mal abgeholt habe, war die Tür zur, und ich habe mich nicht getraut, sie zu öffnen. Die anderen, die da waren, um ihre Kinder abzuholen, haben sich auch nicht getraut.«
»Du wärst sonst auch ausgeschimpft worden«, erklärte Flora. »Wir müssen uns nämlich immer ganz stark konzentrieren, weil wir sonst keine Fortschritte machen.«
»Aber irgendwann kann man euch doch mal tanzen sehen, oder?«
»Oh ja, es wird eine Aufführung geben. Aber da tanze ich wahrscheinlich nur ganz hinten, weil wir ja erst angefangen haben.«
Sie hörten, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Flora rannte in den Flur. »Papa!«
Rainer Flossbach breitete beide Arme auf und fing seine kleine Tochter auf. Anke und er waren zuerst bestürzt gewesen über die späte, unerwartete Schwangerschaft, aber wie froh waren sie jetzt über dieses Kind! Flora hatte zwar alle Planungen über den Haufen geworfen, aber es gab keinen Tag, an dem Anke und er nicht dankbar für ihre Tochter waren – vor allem jetzt, da Miro nicht mehr lange bei ihnen sein würde.
»Schläft Mama?«
»Sie hat gebadet und war danach müde, hat Miro gesagt. Da hat sie sich noch mal hingelegt.«
»Müde bin ich auch«, gestand Rainer, »leider muss ich morgen schon wieder los. Aber nach der nächsten Tour habe ich eine ganze Woche frei und kann mich mal richtig ausschlafen. Und nachmittags können wir zusammen etwas unternehmen.«
Auch Miro kam jetzt in den Flur. »Hallo, Papa, das ist ja toll, dass du schon da bist.«
Er umarmte seinen Vater.
»Ja, das ist schön, aber der Preis dafür ist hoch: Die haben mir für morgen noch eine Tour aufgedrückt. Ich dachte ja eigentlich, ich hätte morgen schon frei, aber ein Kollege ist krank geworden, ich konnte mich nicht drücken.« Er schnupperte. »Was duftet denn hier so gut?«
»Brathähnchen«, sagte Miro. »Mama hatte auch Lust drauf, da habe ich welche gekauft und in den Backofen geschoben.«
»Ich dusche noch schnell, bevor ich eure Mutter begrüße – ich bin zwölf Stunden durchgefahren, um schneller hier zu sein.«
Rainer verschwand im Bad, und Miro ging in die Küche, um sich ums Essen zu kümmern. Während der Krankheit seiner Mutter war das seine Aufgabe gewesen. Er konnte nur ein paar Gerichte, aber die immerhin ganz gut. Zum Glück war Flora keine anspruchsvolle Esserin, und seine Mutter hatte ohnehin kaum Appetit gehabt. Wenn sich das jetzt wieder änderte, war sie also offenbar doch endlich auf dem Weg der Besserung.
Als Rainer aus dem Bad kam, weckte er seine Frau, und zum ersten Mal seit längerer Zeit saßen sie wieder zu viert am Tisch. Flora erzählte von ihrer Ballettschule, Rainer berichtete von ein paar eher lustigen Begebenheiten von seiner letzten Fahrt, Anke und Miro beschränkten sich mehr oder weniger aufs Zuhören.
Zum ersten Mal bekam Miro Angst vor der Zukunft. Das hier war seine Familie, er fühlte sich geborgen, wenn er mit diesen drei Menschen zusammen war. Aber sobald er sein Studium beendet hatte, würde er nicht mehr hier wohnen, seine Eltern und seine kleine Schwester nicht mehr regelmäßig sehen, sich ein eigenes Leben aufbauen müssen.
Noch konnte er es sich nicht vorstellen.
*
Es war wie beim ersten Mal: Als Simon das Haus sah, drohte ihn der Mut zu verlassen, aber er riss sich zusammen. Seine Schwestern erwarteten von ihm, dass er es schaffte, nach den Kindern auch die Eltern Laurin von sich und seinen Fähigkeiten zu überzeugen, und er fand, er war es Lisa und Lili schuldig, sich zumindest anzustrengen. Wenn es dann trotzdem nicht klappte, konnte er zumindest sagen, dass er sich Mühe gegeben hatte.
Ihm fiel ein, dass er die ›Zeugnisse‹, die seine Schwestern ihm geschrieben hatten, bei seinem ersten Besuch in diesem Haus gar nicht vorgelegt hatte. Es war ihm überflüssig erschienen, sie den vier Teenagern zu zeigen, denn die hatten ihn ja ohnehin schon mit offenen Armen empfangen. Mit ihnen war das eigentlich gar keine Prüfungssituation gewesen, das würde heute anders sein. Er hatte sich noch nicht entschieden, wie er dieses Mal mit den Schreiben seiner Schwestern verfahren würde.
Wie bei seinem ersten Besuch wurde die Haustür von Kyra geöffnet, die ihn auch heute wieder schüchtern anlächelte. »Da bist du ja«, sagte sie, und es klang so erleichtert, als hätte sie Zweifel an seinem Kommen gehabt.
»Ja, natürlich bin ich da, wir sind doch verabredet.«
»Ja, aber Kaja meinte, du kriegst vielleicht Angst und kommst nicht.« Sie sah seinen Gesichtsausdruck und deutete ihn richtig.
Ihre nächste Geste rührte ihn: Sie griff nach seiner Hand. »Komm«, sagte sie. »Meine Eltern sind nett. Wenn sie dich erst sehen, vergessen sie, was sie vorher gedacht haben.«
»Was haben sie denn gedacht? Dass ich zu jung und den Aufgaben hier nicht gewachsen bin?«
»Klar denken sie das. Das würdest du auch denken, wenn du an ihrer Stelle wärst, oder?«
Das ließ sich kaum bestreiten.
Kyra ließ seine Hand los. »Sie wollen allein mit dir reden«, sagte sie. »Wir dürfen nicht dabei sein, aber wir sind alle in der Nähe.«
Auch ihre Worte rührten ihn, aber er kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn ein gutaussehender Mann erschien an der Wohnzimmertür, der so jung aussah, dass er eigentlich nicht der Hausherr und Vater von vier Kindern sein konnte, doch Kyra sagte eilig: »Das ist Simon, Papa. Ich habe ihn ganz zufällig kommen sehen.« Und weg war sie.
»Guten Tag, Herr Dr. Laurin«, sagte Simon höflich.
»Den Doktor lassen Sie in diesem Haus ruhig weg, wir sind ja privat hier. Kommen Sie herein, Herr Daume, meine Frau und ich haben in den letzten Tagen sehr viel über Sie gehört.«
Simon folgte Leon Laurin ins Wohnzimmer und musste erneut schlucken. Antonia Laurin war eine ausgesprochen schöne Frau mit klugen Augen, die ihn jetzt so forschend musterten wie zuvor die Augen ihres Mannes.
»Simon Daume«, sagte er. »Guten Tag, Frau Doktor … äh, Frau Laurin. Ihr Mann meinte, ich soll die Titel hier im Haus weglassen.«
»Ja, das sollen Sie ganz sicher. Bitte, setzen Sie sich doch.«
Sie behandelten ihn wie einen Gast, fiel ihm auf, boten ihm etwas zu trinken an, machten ein paar Bemerkungen über das Wetter und den Verkehr, aber dann merkte er plötzlich, dass sie längst nicht mehr über Belanglosigkeiten sprachen, sondern über ihn und seine