Der neue Dr. Laurin Box 2 – Arztroman. Viola Maybach
eines anderen Studenten, den er nur vom Sehen kannte. Ein untersetzter Dunkelhaariger mit grauen Augen. Sie hatten sich schon einige Mal zugenickt, aber noch nie miteinander gesprochen.
Hastig erhob er sich. »Ja, klar, ich habe nur nachgedacht.«
»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte der andere. »Du siehst aus, als hättest du Schmerzen.«
Miro sah keinen Sinn darin, weiter so zu tun, als fehlte ihm nichts, und so gestand er: »Kopfschmerzen. Das ist neu für mich, die hatte ich früher nie. Ich habe überlegt, ob ich mal zum Arzt gehe.«
»Tu das. Und nimm das hier, das ist eine Schmerztablette.«
»Danke. Ich … nehme eigentlich nie Medikamente.«
»Eine Schmerztablette wird dich nicht umbringen. Ich bin übrigens Fritz Malchow.«
»Miro Flossbach. Danke für die Tablette, Fritz.«
»Du musst Wasser dazu trinken. Gehst du zum Essen auch in die Mensa?«
Miro nickte. Seine Mutter hatte versprochen, etwas für Flora zu kochen, so konnte er an der Uni bleiben, das war für ihn praktischer, als zwischendurch nach Hause zurückzukehren.
»Dann können wir zusammen essen, wenn’s dir recht ist«, sagte Fritz.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu den Waschräumen, wo Miro die Tablette nahm und mit ordentlich Wasser hinunterspülte.
Fritz und er stellten während des Essens fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten. Nach einer Viertelstunde waren Miros Kopfschmerzen verschwunden, und ab da genoss er das Essen noch mehr.
Als sie die Mensa verließen, hatten jeder von ihnen das Gefühl, einen neuen Freund gefunden zu haben.
*
»Es läuft langsam an«, stellte Maxi Böhler fest, als sich die Sprechstunde in der neuen Kinderarztpraxis dem Ende zuneigte.
»Zum Glück«, sagte Antonia erleichtert. »Nicht auszudenken, wenn das ein Flop würde. Ich habe mir so viel anhören müssen wegen meiner Idee, noch einmal in den Beruf einzusteigen, dass ich es nur schwer ertragen würde, wenn meine Kritiker am Ende mit Recht sagen könnten: Wir haben doch gleich gewusst, dass es nicht funktioniert.«
»Natürlich funktioniert das. Sag mal, wann fängt euer neuer Haushälter an?«
»Am Montag.«
»Ich bin gespannt.«
»Das sind wir alle, wie du dir bestimmt vorstellen kannst. Maxi, ich muss los, Kyra hat heute wieder früher Schluss, ich mag sie nicht so lange allein lassen.«
»Dann zisch ab«, sagte Maxi. »Ich bleibe noch etwas, ich kann dann abschließen.«
»Danke, bis morgen.«
Antonia beeilte sich, aber als sie sich ihrem Haus näherte und den großen Wagen sah, der direkt davor parkte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Wie lange herrschte jetzt schon Funkstille zwischen ihr und ihrem Vater? Seit jenem unangenehmen Besuch, den Leon und sie ihm und seiner zweiten Frau Teresa abgestattet hatten und bei dem Antonias Pläne zur Sprache gekommen waren.
Ihr Vater war außer sich gewesen über ihre ›Verantwortungslosigkeit‹ – in seinen Augen hatte sie die Absicht, ihre Kinder im Stich zu lassen und gewissermaßen den Ehemann gleich dazu. Es war zu einem heftigen Streit gekommen. Zwar hatte Teresa mehrmals versucht zu vermitteln, aber ein durchschlagender Erfolg war ausgeblieben.
Und jetzt war ihr Vater bei ihnen zu Besuch? Mitten am Nachmittag und ohne Ankündigung? Er musste Kyra allein angetroffen haben, das war bestimmt wieder Wasser auf seine Mühlen gewesen. Voll böser Vorahnungen öffnete sie die Haustür.
Sie hörte die erhobene Stimme ihres Vaters bis hierher.
»Sag mir sofort, dass das nur ein dummer Scherz ist, Kyra! Ich kann nicht glauben, dass das, was du mir eben erzählt hast, stimmt.«
»Aber wieso denn, Opa? Das ist doch eine super Lösung, nachdem wir so lange …«
Antonia öffnete die Wohnzimmertür, blieb aber in der Öffnung stehen. »Welch unerwarteter Besuch«, sagte sie kühl.
»Mami!« Kyra stürzte auf sie zu und umarmte sie. »Opa ist zufällig vorbeigekommen, und ich habe ihm von Simon erzählt.«
Ach, daher wehte der Wind, sie hätte es eigentlich wissen müssen!
Ihr Vater stand hoch aufgerichtet im Zimmer, den Blick anklagend auf seine Tochter gerichtet. »Zuerst entschließt du dich, ohne Not wieder zu arbeiten, obwohl du weiß Gott zu Hause genug zu tun hättest – und jetzt erfahre ich außerdem noch, dass du einen unerfahrenen jungen Mann ohne jegliche Referenzen einstellen willst, damit er sich hier um den Haushalt und die Kinder kümmert? Ich muss sagen, dass ich allmählich an deinem Verstand zweifele, Antonia.«
»Kyra, würdest du uns bitte allein lassen?«, bat Antonia, und sie wunderte sich selbst darüber, dass ihre Stimme bei diesen Worten beinahe normal klang. »Und mach bitte die Tür hinter dir zu.«
Kyra verschwand ohne Widerrede – und so schnell, dass es einer Flucht gleichkam.
»Wieso schickst du sie weg? Darf sie nicht hören, wie ihr Großvater ihre Mutter kritisiert?«
»Eher sollte sie nicht unbedingt hören, was ihre Mutter ihrem Großvater zu sagen hat«, versetzte Antonia kühl. »Du hast deine Meinung gesagt, ich habe sie zur Kenntnis genommen, und mehr möchte ich dazu von dir nicht hören. Ich bin erwachsen, ich treffe meine eigenen Entscheidungen und wenn sie dir nicht passen, tut es mir leid, aber ich werde sie deshalb nicht zurücknehmen. Wenn das alles war, was du mir mitzuteilen hattest, sehe ich unser Gespräch hiermit als beendet an. Ich hatte einen anstrengenden Tag und würde mich jetzt gern mit meiner jüngsten Tochter unterhalten.«
Ihr Vater erstarrte bei diesen Worten. »Du weist mir die Tür?«, fragte er.
»Ich sagte, wenn du mir außer Kritik an meinen Entscheidungen nichts mitzuteilen hast, sehe ich keinen Sinn darin, unser Gespräch fortzusetzen. Das ist ein Unterschied.«
Professor Dr. Joachim Kayser stand noch sekundenlang unbeweglich an derselben Stelle, dann eilte er mit langen Schritten zur Tür, riss sie auf und verließ gleich darauf das Haus.
Antonia merkte erst jetzt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie hätte gern geweint, hielt die Tränen aber zurück. Schon oft hatte sie mit ihrem Vater gestritten, aber noch nie zuvor so wie heute. Sie hatte diesen Streit nicht gewollt, aber sie war ihm auch nicht ausgewichen. Vielleicht musste es ein- für allemal geklärt werden, dass sie sich von ihrem Vater nicht mehr maßregeln lassen würde. Er war ein Mann alter Schule, sein Weltbild hatte nicht Schritt gehalten mit den Entwicklungen der letzten fünfzig Jahre. Aber das war nicht ihr Problem, es war seins. Teresa war nicht viel jünger als er, doch sie verharrte deutlich weniger in der vermeintlich ›guten alten Zeit‹. Sie wollte wahrhaftig nicht im Streit mit ihrem Vater leben, aber sie wollte sich in Zukunft auch nicht bei jedem Treffen von ihm kritisieren lassen dafür, dass sie sich für ein Leben entschieden hatte, das ihm nicht gefiel.
Kyra erschien an der Tür, sah die verkrampfte Haltung ihrer Mutter und kam sofort auf sie zu, um sie zu umarmen. »Ich wusste nicht, dass er so böse werden würde, sonst hätte ich ihm bestimmt nichts von Simon erzählt, Mami«, sagte sie.
»Du hast alles richtig gemacht. Es liegt an ihm, Kyra. Er will einfach nicht wahrhaben, dass die Welt sich weiterdreht. Er war immer ›der Herr Professor‹, und alles geschah so, wie er es haben wollte. Davon verabschiedet man sich nicht so leicht.«
»Redest du jetzt nie wieder mit ihm?«
»Wir brauchen wohl beide etwas Zeit«, erwiderte Antonia ausweichend. »Und Teresa ist ja auch noch da. Ich nehme an, dass sie hinter seinem heutigen Besuch steckt. Wahrscheinlich wollte er sich mit mir versöhnen, aber dazu ist es ja nicht gekommen.«
»Das war meine Schuld, tut mir leid, Mami.«
»Es muss dir nicht leidtun, wie gesagt, du