Gesammelte Werke. Ricarda Huch
hatte er Anhänger, die in seinen um die Dogmen unbekümmerten Gedankengängen lebten, ohne sich in offnen Widerspruch zur Kirche zu setzen. Auch Staupitz sagte, als er Luthers Beichte gehört hatte: »Magister Martin, ich verstehe euch nicht, ihr klagt euch der Sünde an und wißt doch keine Sünden aufzuzählen.« Die Mischung von Hingebung und Verstocktheit hätte ihn ungeduldig machen können, aber der blasse Mönch mit den dunklen leidenschaftlichen Augen, dies versiegelte Menschenrätsel, zog ihn an. Er versuchte ihm zu helfen aus Güte und gewann dabei den Kranken lieb. Den schwerfälligen Bekenntnissen desselben begegnete er mit Humor, wofür Luther sehr empfänglich war, und mit der unbekümmerten Gelassenheit des Frommen und Vornehmen. Natürlich könne der Mensch die göttlichen Gebote nicht halten. Der Mensch sei schwach, er gelobe wohl, aber das Halten stehe nicht in seiner Macht. Gott verlange auch keine Vollkommenheit, er verlange, daß der Mensch sich auf seine Barmherzigkeit verlasse. Dazu habe er ja seinen eingebornen Sohn gegeben, daß er unsere Sünde auf sich nähme. Nicht unser Tun, unser Glaube mache uns rein. Solche Worte trafen erleuchtend in die Mitte von Luthers verworrenen Vorstellungen. Mehr aber als die Erkenntnis wirkte auf ihn die Persönlichkeit des Vikars. Wie Gott durch Menschen wirkt, so erlebt der Mensch Gott durch Menschen. Der Mensch ist zum Ebenbild Gottes erschaffen; einem Menschen zu begegnen, der das empfangene Gepräge rein erhalten hat, ist erhebend und beglückend, vollends wenn wir uns ihm in Freundschaft nähern können. Daß er lieben und verehren, sich in Liebe und Verehrung hingeben konnte, das war es eigentlich, was den Versinkenden rettete und was ihm erst das Verständnis eröffnete für die Belehrung, die er empfing. Jener feine alte Mann hatte recht gehabt: er, Luther, hatte Gott gezürnt, inmitten einer quellenden, fühlenden Welt war er kalt geblieben. Im Augenblick, wo er liebte, fügten sich die auseinandergefallenen Teile seines Wesens wunderbar zusammen und gaben wie ein Instrument, das geborsten war und heil wurde, volle, wohllautende Töne. Staupitz war ein zu kundiger Arzt, um seine Aufgabe damit für erfüllt zu halten, daß er den zweifelnden Mönch einer besseren Einsicht in die göttlich-menschlichen Beziehungen zugänglich gemacht hatte; es kam darauf an, seine tätigen Kräfte wirken zu lassen und ihn mit geeigneten Menschen in Wechselverkehr zu bringen. Um das zu erreichen, schickte er ihn nach Wittenberg, um an der im Jahr 1502 dort gegründeten Universität zu lehren. Damit tat er als Dekan der theologischen Fakultät, der für die Besetzung der Lehrstühle zu sorgen hatte, seine Pflicht, nützte der Universität, denn er hatte die hervorragende Bedeutung des jungen Freundes erkannt, und erfreute den Kurfürsten, der für seine Gründung lebhaftes Interesse hatte.
Friedrich der Weise war damals 45 Jahre alt, ein Fürst, der sich in vieler Hinsicht stark von seinen Standesgenossen unterschied. Er hatte die Bestrebungen Bertholds von Henneberg geteilt und blieb nach dessen Tode ihr bedeutendster Vertreter, Kämpfer für ein ständisches Regiment, also Gegner des Kaisers; aber er war zurückhaltender, als der Henneberger gewesen war, ein verschlossener, nicht leicht zu durchschauender Charakter. Darin waren alle einig, ihn wegen seiner Sachlichkeit, seiner Überzeugungstreue, der Reinheit seiner Absichten und Sitten zu achten. Man schrieb es seinen Beziehungen zu einer bürgerlichen Frau zu, daß er nicht heiratete; für die Nachfolge zu sorgen überließ er seinem Bruder Johann, mit dem ihn herzliche Liebe verband und dessen Sohn Johann Friedrich er als seinen eigenen betrachtete. Wenn später ein päpstlicher Legat sagte, er sehe aus wie ein fettes Murmeltier und habe auch dessen schiefen Blick, so wird nicht jeder in diesem Vergleich etwas Herabsetzendes finden, obwohl er ohne Zweifel so gemeint war. Wir kennen sein Äußeres aus den Bildern von Dürer und Cranach; Cranach, der ihm persönlich nahestand, hat mit bewundernswürdiger Kunst die demütige und inbrünstige Frömmigkeit wiedergegeben, die das ungestalte fleischige Gesicht verschönte, zugleich auch etwas ängstlich Zweifelndes im Blick. Mit Staupitz verband den Kurfürsten herzliche Freundschaft. Als sie sich einmal über die Untauglichkeit der scholastischen Prediger unterhalten hatten und daß nur die Heilige Schrift die Herzen zu sich zwinge, ließ sich Friedrich von Staupitz versprechen, daß er nie von dieser Überzeugung weichen werde. Seine Frömmigkeit durchdrang sein Leben, auf ihr beruhte seine Treue, seine Unbestechlichkeit, seine edle Bescheidenheit; aber er blieb im kirchlichen Herkommen und sogar in kirchlichen Äußerlichkeiten, wie er denn eine Sammlung von 5005 Reliquien besaß, die in der Wittenberger Allerheiligenkirche zur Verehrung aufgestellt waren und durch die er sich oft und oft hindurchkniete. Je mehr Abteilungen der Sammlung man kniend verehrte, desto mehr Ablaß erhielt man. Man kann annehmen, daß es zum Teil die dem Menschen eigene Sammelsucht war, die sich hier auf kirchlichem Hintergrunde besonders ausgelassen auswirken konnte, und daß die Haare der heiligen Elisabeth und Finger der heiligen Bobilia, durch kostbare Fassung zu kunstgewerblichen Gegenständen geworden, nicht nur das Gemüt erhoben und das Gewissen erleichterten, sondern auch das Auge belustigten. – Luther, der zwischen Bergen geboren war und seit Jahren in der um ihre majestätischen Dome gruppierten, ansehnlichen Stadt Erfurt gelebt hatte, blickte mit einem leichten Ekel auf die Wittenberger Sandfläche, in der ein paar hundert hölzerne Häuser planlos herumstanden, durch das massive neue Schloß noch mehr ins Armselige gedrückt. Das Augustinerkloster, wo er zu wohnen hatte, war baufällig, die Kirche verglich ein Zeitgenosse einem Stalle, in der Art wie die Maler solche bei der Geburt Christi zu malen pflegen. Die schmackhaften Kerne sitzen oft in harter Schale. Der Beginn der neuen Laufbahn war unerfreulich; es war ein tückischer Zufall, daß Luther gerade über Aristoteles lesen mußte, den er verabscheute. Kaum hatte er recht mit den Vorlesungen begonnen, da trug ihm Staupitz auf, auch zu predigen. Unter einem Birnbaum im Klosterhof saßen sie, als Luther fünfzehn Einwände vorbrachte, um sich dem Befehl zu entwinden. Wie einst Moses sich Gott widersetzte, der ihn berief, so wehrte sich Luther gegen die gefürchtete Aufgabe. »Ehren Staupitz«, sagte er schließlich, »Ihr bringt mich um mein Leben. Ich werde es nicht ein Vierteljahr treiben.« »In Gottes Namen«, erwiderte Staupitz lachend, »unser Herrgott oben hat auch große Geschäfte und kann kluge Leute brauchen.« Es blieb dem Mönch nichts übrig, als zu gehorchen. Anfänglich predigte er nur in der Augustiner Stallkirche, dann, da der Stadtpfarrer erkrankte, auch in der Pfarrkirche. Bald wurde das Predigen seine liebste Tätigkeit, er hatte großen Zulauf; auch der Kurfürst und sein Bruder Johann waren zuweilen unter seinen Zuhörern. Umwälzenden Neuerungen hatte er diesen Erfolg nicht zu danken; noch im Jahr 1512 legte er in seinen Vorlesungen über den Psalter den Text in üblicher Weise aus, so daß z. B. Jerusalem nach dem Buchstaben eine Stadt sei, tropologisch die Tugend, anagogisch die Belohnung. Was die Hörer ergriff, war wohl der tiefe Klang dessen, der erlebt, was er sagt, war die Zauberkraft der genialen Persönlichkeit, die wie Musik unmittelbar ergreift und in geheimnisvoller Übertragung die schaffenden Kräfte der Menschen steigert, so daß sie sich dem Wesen der Dinge näher fühlen. Als eine konservative Natur bildete er sich sehr langsam Überzeugungen und setzte sich noch langsamer zu seiner Umgebung in Widerspruch. Wie er sich in Paulus und Augustinus vertiefte, bestärkte er sich mehr und mehr in der durch Staupitz gewiesenen Auffassung, daß der Frieden der Seele nicht in der Ausübung kirchlicher Vorschriften oder überhaupt im Tun liege, sondern im Glauben, aber es lag ihm fern, sich deswegen im Gegensatz zur Kirche oder zu seinem Klostergelübde zu fühlen. Es quälte ihn, wenn er die vorgeschriebenen Gebete, vielbeschäftigt wie er war, nicht zur festgesetzten Stunde gehalten hatte, und er schadete seiner Gesundheit durch asketische Übungen. Als er durch den sorgsamen Staupitz in Geschäften des Ordens nach Rom geschickt worden war, zog er in die auserwählte Stadt ein mit dem überschwenglichen Gefühl eines gläubigen Pilgers. Der Gedanke, daß er die Erde betrat, die das Blut so vieler Märtyrer betaut hatte, ließ sein Kindergemüt erschauern. Er sah nur den unsichtbaren Schimmer sagenhafter Überlieferung, nicht die leibhaftige Schönheit, die Raffael und Michelangelo erschufen. Was er außer den Heiligtümern in sich aufnahm, war die Eigenart des italienischen Volkes. Aufgeschlossen für alles Menschliche, beobachtete er voll Interesse ihren Fleiß, die Höflichkeit, ihre Lebhaftigkeit im Reden und Bewegen, hielt sie aber für listig und verschmitzt und tadelte sehr ihr vieles Fluchen und das hastige Erledigen der kirchlichen Zeremonien. Den skeptischen Humor der Italiener lernte er kennen, als er eines Tages bei Tisch erzählen hörte, wie es Priester gebe, die beim Messehalten über dem Brot und Wein sprächen: Brot bist du, Brot bleibst du, Wein bist du, Wein bleibst du! Das entsetzte ihn; er hatte eine so freche Gotteslästerung nicht für möglich gehalten. Was er aber auch am kirchlichen Betriebe auszusetzen hatte, an Papst und Kirche machte ihn das nicht irre.
Allmählich begann sich Luther in Wittenberg heimisch zu fühlen. Seine bedeutende Persönlichkeit, sein geistvoll anregendes und zugleich