Gesammelte Werke. Ricarda Huch

Gesammelte Werke - Ricarda Huch


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daß sie bei Judenverfolgungen durch den Pöbel hindernd und strafend einschritten. In dieser erhitzten Stimmung verschärfte sich teils der Glaubenshaß, teils wurde er Vorwand. Ohnehin nahm im 13. Jahrhundert der Fanatismus der Kurie zu, sowohl in bezug auf die Ketzer als auf die Juden. Innocenz III. erließ ein Gesetz, das den Juden eine bestimmte Tracht vorschrieb, die sie kenntlich und zugleich lächerlich machte. Die spitzen gelben Hüte gaben sie dem Hohn der Gasse preis.

      Die Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg, und offenbarten den Heroismus, dessen die Juden fähig waren. So pflegt die ewige Gerechtigkeit Gewinn und Verlust zwischen Verfolgern und Verfolgten zu verteilen. Die Einsicht, daß die Deutschen in bezug auf das Geldgeschäft oft schlechter als die Juden handelten, ohne dieselben Entschuldigungen zu haben, machte niemanden in seiner Wut wankend. Der Mönch von Winterthur, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts die Geschichte seiner Zeit niederschrieb, erzählt einmal, in Lindau sei bei den meisten Menschen Gottesfurcht und Nächstenliebe so verschwunden, daß sie gegen das ausdrückliche kanonische Gebot, verworfener als die Juden, hohen Zins verlangten. Sie wären in der Gewissenlosigkeit so verhärtet, daß sie den Minoriten Schuld gäben, weil sie, wie sie behaupteten, ihnen bei der Beichte keine Sünde daraus machten. Da sei ein wohlhabender Jude gekommen, habe um Aufnahme gebeten und versprochen, gegen geringen Zins wöchentlich Geld auszuleihen. Die Bürger hätten sich gefreut, und der Rat habe beschlossen, daß Christen künftighin keinen Wucher treiben dürften. Derselbe Mönch erzählt, daß in Überlingen Unwille gegen die Juden entstanden sei, weil sie einen Knaben ermordet hätten. Das Volk von Überlingen wünschte nun die Juden zu vernichten, ohne daß Kaiser Ludwig, von dem man wußte, daß er die Juden schützte, die Stadt bestrafte; man glaubte das zu erreichen, indem man die Juden überredete, zu ihrem Schutz in ein hohes steinernes Haus zu flüchten. Nachdem sie das getan hatten und alle darin eingeschlossen waren, zündete man das Haus unten an. Da sie nicht herauskonnten, flohen die Betrogenen immer höher hinauf, bis sie zuletzt auf dem Dach erschienen. In ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung warfen sie Steine und Balken auf die Volksmenge, die sich gaffend unten angesammelt hatte. Dann versanken sie unter Gesängen in das in eine Flammenpyramide verwandelte Haus.

       Inhaltsverzeichnis

      Ketzer waren einzelne, die es besser wissen wollten, und Völker, die als Sonderwesen ihre besondere Beziehung zu Gott und den göttlichen Dingen zum Ausdruck bringen wollten.

      Das Christentum ist keine Religion wie die übrigen. Es ist der Glaube, in dem sich die Menschheit vollendet, es bezeichnet den Augenblick, wo sie, in Christus, mit Gott eins wird, wo sie in Christus ihres göttlichen Ursprungs und Zieles innewird. Der Gottmensch ist die Wahrheit, der Weg und das Leben. Was diese Religion lehrt und spendet, ist, so voll von Übersinnlichkeit sie auch sein mag, doch nichts der Menschheit Wesensfremdes, sondern eine Entfaltung, ein Erstrahlenlassen des Menschheitsgedankens. Eine Religion, die über sie hinausgehn kann, ist so wenig denkbar wie ein Zurückgehn auf das Heidentum, das im Christentum mündete, in ihm enthalten ist; die einmal christlich gewordene Menschheit kann, wenn sie nicht christlich bleibt, nur zerfallen, verwildern und in einem entgötterten und naturfernen Zustand ihr Dasein weiterschleppen. Innerhalb des Christentums aber sind unzählige Besonderheiten der Auffassung möglich entsprechend den unzähligen Völkern und einzelnen innerhalb der Menschheit. Die Kirche erfaßte ihre Aufgabe, die Weltreligion zu verkünden, den großen Gedanken, die ganze Menschheit, zunächst wenigstens das Abendland, in einem Glauben zu vereinen, mit Ernst und Klugheit. Es schien selbstverständlich und auch leicht, solange das Christentum im Kampfe gegen den römisch-heidnischen Staat alle seine Kräfte im Namen des Erlösers zusammenfaßte; kaum aber war es herrschend geworden, als die unendliche Mannigfaltigkeit der Menschen die Schlichtheit des Bekenntnisses durchbrach und über den großen Symbolen und Worten des Herrn der einzelne ein verwickeltes Gedankengebäude auftürmte. So wie jeder Mensch unter Millionen sein eigenes Antlitz trägt, das ihn von allen anderen unterscheidet, sein eigenes Schicksal erlebt, das keinem anderen gleicht, so gehen auch seine Gedanken eigene Wege, und unüberwindlich ist die Lust eines jeden, die Welt mit eigenen Augen zu betrachten und ihre Rätsel mit eigenem Scharfsinn zu durchdringen. Diesem Drange nach eigener Erkenntnis steht der kindliche Hang gegenüber, sich den Anschauungen der Väter, dem Zeugnis Ehrwürdiger anzuschließen, und das unmittelbare Einströmen der großen Geister in die göttlichen Offenbarungen der Vorzeit. Wäre das nicht, die geistige Welt der Menschen und damit die Welt überhaupt wäre längst zerfallen. Dennoch greifen die auflösenden Kräfte so zahlreich und so kräftig an, daß außerordentliche Gewalt am Werk sein muß, um ihnen den sinnvoll gestalteten Kosmos zu entreißen. Als die Juden in der Wüste das Goldene Kalb anbeteten, erschlug Moses dreitausend Mann; da das wandernde Volk durch kein anderes Band zusammengehalten wurde, als durch den Glauben an seinen Gott, zog er es vor, einen Teil zu opfern, um das Ganze zu erhalten. Das Gebot »Die Zauberer sollst du nicht leben lassen«, das später die Aufschrift über einer düsteren Periode der abendländischen Geschichte wurde, will die Anwendung magischer Mittel zur Erreichung eines Zweckes durchaus, auch mit den schärfsten Mitteln ausschließen. Immer brandete unterirdisch ein titanischer Strom gegen die herrschende Ordnung, die auf unantastbaren Grundwahrheiten beruht.

      Innerhalb der christlichen Kirche wurde in den ersten Jahrhunderten die Grundlage des Glaubens nicht angegriffen; wohl aber tauchten allmählich verschiedene Auffassungen über die einzelnen Punkte des Bekenntnisses und die daraus zu ziehenden Folgerungen auf, wie etwa über das Wesen der Dreieinigkeit, über das Abendmahl, über die Gnadenwahl, über die Auferstehung. Den voneinander abweichenden Meinungen gegenüber sah sich die Kirche genötigt, eine Auffassung als die richtige, eine andere als unrichtig zu bezeichnen, was unter Zuziehung der führenden Männer auf allgemeinen Versammlungen geschah. So wurden aus Mysterien, die den Eingang zu den Abgründen des Übersinnlichen bezeichneten, die die ahnungsvolle Seele anbetend erfaßte, Dogmen, unanfechtbare, erlernbare Sätze. Aus dem Fließenden wurde etwas Starres, das mit seinem Anspruch auf unfehlbare Richtigkeit den Zweifel des widerspruchslüsternen Menschen um so mehr herausforderte. Nicht als ob die Kirche dem Volke die Mysterien in ihrer eindrucksvollen Bildlichkeit vorenthalten hätte. Durch Unterricht und Predigt wurde die Kenntnis der biblischen Geschichte verbreitet, und von den Wänden der Kirche konnte das Volk die große Tragödie vom Sündenfall und der Erlösung der Menschheit ablesen. Papst Gregor hatte sich gegen die Abschaffung der Bilder ausgesprochen, weil das des Lesens unkundige Volk sich durch das Anschauen der Bilder die Heilsgeschichte einprägen könne. An den Portalen der Dome empfingen den Eintretenden die Propheten und Apostel, die klugen und die törichten Jungfrauen, der Weltenrichter; aus den halbdunklen Gewölben glühten im vertrauten Umriß die wunderbaren Taten Gottes hervor und die geheimnisvollen Berührungen des menschlichen Daseins mit dem göttlichen: die Verkündigung des Engels, die Geburt im Stalle, die Auferweckung des Lazarus, der Tod des Gottes am Kreuz. Von diesen Bildern aber, sofern sich nicht durch den täglichen Anblick ihre Bedeutung abstumpfte, führte niemand den Gedanken weiter. Predigten wurden wohl im allgemeinen regelmäßig und reichlich gehalten, aber sie beschränkten sich auf leere Formeln und spitzfindige Allegorien. Wenn einer aus der Menge rege genug war, um sich eigene Gedankengänge zu graben, versperrten ihm die Dogmen wie eiserne Vorhänge despotisch starr den Weg. Immer brandet die Eigenart und der Freiheitswille des Individuums gegen die Fesseln, die der Wille zum Ganzen ihm anlegt, wenn sie seinen Geist zu ersticken beginnen. Die heidnischen Germanen öffneten sich im allgemeinen dem christlichen Gedanken leicht, weil sich der Übergang von der gotterfüllten Natur zu Gott leicht vollziehen kann. Andererseits ließ die Kirche das Heidnische, soweit das möglich war, ohne das Wesentliche zu zerstören, in sich einfließen, voll Weisheit bedenkend, daß die Weltkirche wohl alles Menschliche bilden, aber nichts Menschliches verleugnen soll. Nachdem aber einmal die Christianisierung vollzogen war, machte sich die Verschiedenheit der einzelnen und der Völkerschaften geltend, letzteres im selben Maße wie die Eigenart der Nation sich auswirkte. Wie weit und elastisch die Kirche ihren Umfang auch gezogen hatte, die Besonderheit der Germanen machte sich doch allmählich geltend und strebte nach einem germanisierten Christentum hin. Berechtigtes und Unberechtigtes pochte an die Pforten Roms.

      Bewundernswert der Römergeist,


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