Michael Unger . Ricarda Huch

Michael Unger  - Ricarda Huch


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in effigie darin. Meine Seele ist immer ledig geblieben, Familienglück finden Sie bei mir nicht. Heillose Bürgerzeche, wo zwölf Personen die Knochensuppe voll Fettaugen aus einer Schüssel essen und sich hernach heimlich mit den schmutzigen Löffeln prügeln! Die Liebe ist bei den meisten Menschen doch nur ein barbarisches Talgfressen, indem sie sich etwas in den Magen stopfen, was man verbrennen sollte, damit es eine leuchtende Kraft wird.«

      »Was ich esse, ernährt mittelbar auch mein Gehirn und wird also Licht«, sagte Michael, den das Gespräch auf allerlei unliebsame Gedanken brachte, langsam.

      »Meinetwegen«, sagte der Freiherr, »aber unverdaulich ist das Zeug doch, und wenn ich nicht irre, liegt es Ihnen schon schwer im Magen.«

      Michael konnte in diesem Punkte seine Anschauungen nicht mit denen des Freiherrn in Übereinstimmung bringen. Seine Überzeugung, daß die Familie die Grundlage des menschlichen Glückes und der menschlichen Erziehung sei, wollte und konnte er nicht preisgeben, wenn er auch zugab, daß nirgends wie hier sich menschliche Schwachheit breitmache. Obwohl sein Streben augenblicklich durchaus nach Freiheit stand, fühlte er sich doch unlösbar mit der Familie verbunden und vermochte sich die Zukunft, so verschieden von der Vergangenheit sie auch sein sollte, nicht ohne Familie zu denken.

      Er versetzte sich in die Zeit zurück, wo er Verena liebgewonnen und mit Ungeduld den Tag herbeigesehnt hatte, wo er sie heimführen sollte. Das Ziel hatte er von Anfang an im Auge gehabt, und mußte sich jetzt noch sagen, daß das selbstverständlich und ganz in Ordnung gewesen war.

      Dann besann er sich, daß er als zwanzigjähriger junger Mensch einmal ein Mädchen aus niederem Stande geliebt hatte, ein liebes, warmherziges Ding, das aufzugeben ihn unsägliche Schmerzen, jetzt vergessene, kaum noch eines wehmütigen Lächelns werte, gekostet hatte; später hatte er Gott gedankt, daß er frei geblieben war. Ebenso mochte es jetzt seinem Bruder Raphael gehen, der in eine Kellnerin verliebt war und Lust hatte, sie zu heiraten. Michael hatte ihm nachdrücklich davon abgeredet und war überzeugt, daß er nach geraumer Zeit, wenn er die Sache überwände, darüber froh sein würde.

      Aber er konnte sich nicht verbergen, daß er jetzt glücklich sein würde, wenn er Verena nicht geheiratet hätte. War das ein Beweis, daß sie auch nicht die Rechte gewesen war? Daß er ebensogut jene andere, Längstvergessene hätte heiraten können? Oder daß er wankelmütig oder charakterlos war? Er fühlte, daß das nicht der Fall war, und fand auch nichts anderes, das ihm Klarheit gab. Wie eine Erlösung kam ihm der Gedanke an Mario, das Kind, das er mehr als sich selbst liebte, das Kleinod, das seiner Ehe Wert verlieh, wie wenig echt und gediegen sie übrigens sein oder werden möchte.

      Er sagte sich, daß der Freiherr, dessen einziges Kind, das ihm seine zweite Frau geboren hatte, nur einige Wochen gelebt hatte, das Wesen der Ehe, ihre Kraft, ihre Schönheit, ihre Heiligung nicht begreifen könnte. Mochte er auch noch so sehr wünschen, Verena nicht geheiratet zu haben, konnte er jemals wünschen, daß Mario nicht da wäre? Zugleich erschreckte es ihn, daß er somit selbst das Band, das ihn an Verena knüpfte, unzerreißbar nannte. Faßte er aber auch nur einen Augenblick den Gedanken, wie es wäre, wenn er Mario nie gesehen hätte, oder ob er ihn allenfalls jetzt noch vergessen könnte, so überwältigte ihn gleich darauf die Angst um das kleine Geschöpf, als könnte es ihm entrissen werden, bis zu solchem Grade, daß es ihm schien, er müsse alles, was ihm hier so lieb und teuer geworden war, über den Haufen werfen und nach Hause eilen, nur um sich des kleinen zutraulichen Lebens, das auf immer zu seinem gehörte, aufs neue versichert zu fühlen.

      Daß Michael zu Weihnachten, weil es der Kürze der Ferien wegen nicht der Mühe wert wäre, nicht nach Hause kommen wollte, veranlaßte einen unerfreulichen Briefwechsel mit seiner Familie, namentlich mit Verena. Unerwarteterweise aber schickte sie ihm, einer schönen Aufwallung nachgebend, zum Weihnachtstage das Bild des kleinen Mario, das Rose gemalt hatte, und das sie ihm, als er abreiste, trotz seines dringenden Wunsches nicht hatte mitgeben wollen. Der Freiherr hatte ihn aufgefordert, den Weihnachtsabend bei ihm zuzubringen, aber er konnte sich nun doch nicht entschließen, unter Menschen zu gehen, und saß traurig in seinem halbdunklen Zimmer vor dem gemalten Kinderbilde mit den süßen Augen, während ein föhniger Wind von Zeit zu Zeit Wirbel von Schneeflocken am Fenster vorbeijagte. Er hatte noch niemals einen Weihnachtsabend ohne seine Eltern und ohne Weihnachtsbaum erlebt, und obwohl er mit Bewußtsein schon lange keinen Wert mehr darauf legte, fühlte er sich nun entwurzelt und ungewissen Mächten preisgegeben.

      Indessen trat nach Neujahr eine frische Kälte ein, in der die trüben Stimmungen sich schnell verzogen; auf den Dächern, Hügeln und Tannenwäldern glänzten die glatten Schneemassen, und die helle, kristallene Bläue des Himmels wölbte sich funkelnd darüber. Es gab in der Umgebung der Stadt einen kleinen See, der in den kalten Wintermonaten zufror, und wo dann Schlittschuh gelaufen wurde, ein Vergnügen, dem der Freiherr sehr ergeben war. Am Nachmittag eines Wochentages, wo nicht viele Menschen dort zu vermuten waren, führte er Michael hinaus, in heiterster Laune, wie ein Knabe ganz von der bevorstehenden Lust erfüllt. Man ließ ein Dorf und mehrere Höfe auf spärlich bewaldeten Hügeln hinter sich und gelangte endlich in ein breites Tal, wo der See lag, den im Hintergrunde aufsteigende Tannenwälder abschlossen. Michael war ein guter Schlittschuhläufer, konnte sich aber nicht mit dem Freiherrn messen, der nicht nur die schwierigsten Kunststücke mit Anmut ausführte, sondern auch im einfachen Laufe, wo er in der freiesten Stellung zu fliegen schien, seine vollendete Sicherheit erkennen ließ. Er begrüßte unter den wenigen Personen, die auf dem See waren, einige Bekannte, und stellte Michael einem jungen Mädchen vor, die er Arabell Conz nannte, und die Michael schon hie und da in Vorlesungen des Freiherrn gesehen hatte.

      Sie sah reizend und ungewöhnlich aus: auf kurzem gelockten, aschblonden Haar trug sie ein dunkles Pelzmützchen und ein dunkles, pelzbesetztes Kleid auf dem kindlichen Körper, der den Eindruck großer Beweglichkeit, zugleich aber auch Unbehilflichkeit machte. Auffallend war ihre Art, zu laufen: sie trieb wie eine Träumende dahin, die irgendeine keinem sichtbare Erscheinung verfolgt, für alles Wirkliche dagegen blind ist. Michael bemerkte in ihren offenen blauen Augen ein entzücktes Aufleuchten, als sie den Freiherrn sah, und wie sie an seiner Hand, die er ihr bot, mit erstaunlicher Leichtigkeit, wie von neuer Kraft und Begeisterung getragen, dahinflog. Er sagte sich, daß sie eine von den zahlreichen Verehrerinnen des Freiherrn sein müsse, dem man nachsagte, daß er trotz seiner Jahre den Frauen gefährlicher als irgendein junger Adonis wäre; wenn je, so war es hier begreiflich, wo die geschmeidige Kraft und Eleganz seines Körpers sich vorteilhaft zeigte und die Freude aus seinen energischen Augen blitzte. Wenn er bei freundlicher Unterhaltung mit Menschen, denen er gut war, lächelte, so war sein Mund der eines Jünglings, während für gewöhnlich seine Lippen etwas Strenges hatten und als zu schmal gelten konnten; diese unversehens sich enthüllende Jugendlieblichkeit empfand Michael jedesmal als unwiderstehlichen Zauber.

      Es ergab sich von selbst, daß der Freiherr der erste Gegenstand des Gespräches zwischen Michael und Arabell war. Sie sah ihn erfreut und herzlich an, als sie hörte, daß auch er ihn verehrte, und sagte mit Feuer: »Ja, er ist der Außerordentlichste unter allen Menschen. Er ist so unendlich hoch über mir, daß er meine Fragen kaum vernimmt, und doch empfange ich immer eine Antwort von ihm. Die meisten Menschen stellen nur Fragen, aber er antwortet; er ernährt aus seinem unerschöpflichen, ambrosischen Geiste.« Michael äußerte einiges über den Inhalt seiner mystischen Bücher und fand zu seiner Überraschung, daß das halb kindliche Mädchen sie gelesen hatte und liebte. »Ich verstehe das wenigste davon mit dem Verstande«, sagte sie, »aber ich ahne den Gott darin, den ich anbeten könnte. Wenn in der Kirche von Gott gesprochen wird, fühle ich Zweifel und Widerstreben, der Gott, den er lehrt dagegen, ist lebendig, und nicht einmal der Glaube wagt sich an ihn heran, geschweige der Zweifel. Erklären könnte ich Ihnen das nicht, denn ich habe weder Gelehrsamkeit noch gebildeten Verstand, und mein Platz unter den Geschöpfen ist sehr gering, da ich Gott nie und nirgends fassen kann, nur blind seine Kraft in mir fühle. Ich habe keinen Geist, ich bin nur eine Flamme der Anbetung, eine ewige Lampe, die keine Priesterin zu speisen und zu behüten braucht.«

      Michael verabscheute die überspannten Frauen, hier aber fühlte er sich durch etwas zwar Fremdartiges, aber Ungekünsteltes gerührt und angezogen; diese zitternde Lebensglut fachte ein Hauch an, den Menschen nicht regieren und den es ihnen ziemt zu verehren. Während sie nebeneinander liefen, erzählte


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