Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
durchs Fenster. »Da ist Papa!« jubelte sie, und dann förmlich, mit leichter Kopfneigung zu ihrem Reisegefährten: »Leben Sie wohl!«
Ein Dienstmann hatte ihr Gepäck gefaßt. Sie huschte hinter ihm her aus dem Wagen. Georg Textor wollte ihr nachsehen. Aber andere Kofferträger drängten sich herein, die Menschenmengen draußen fluteten und wogten, und trennend schob sich das Getümmel der Weltstadt zwischen die beiden.
IV.
Jawohl, da stand der dicke, gute Papa! Schon aus der Ferne leuchtete das joviale Burgundergesicht, das – sorgfältig wie immer zur Seite gebürstet und gekräuselt – die eisgrauen Favoris umrahmten. Der schwarzgefärbte Schnurrbart, unternehmend aufgespitzt, direkt zu den kleinen, listig zwinkernden Augen hinauf, das goldene Pincenez, der hechtgraue Zylinder, weit auf die von spärlichen Haarstreifen überspannte Glatze zurückgeschoben, ein jugendlich-heller, nonchalanter Sommeranzug um die hohe, korpulente Gestalt, die spitzen Lackstiefel, der Bambusstock mit Goldknopf, das kokett aus der Brusttasche schauende Eckchen bunten Seidentuchs, das feine Parfüm von Kölnisch Wasser und Zigaretten ... alles wie sonst.
Nur ein bißchen röter im Gesicht war er geworden, der gute Papa ... beinahe gedunsen. Und in seinen Augen lag ein wässeriger Glanz. Nun – das war die Freude des Wiedersehens ...
»...Aber Kind ...« weiter konnte er nichts sagen, während ihm das schöne Mädchen lachend an die Brust flog... »...aber Kind ...« Er brach wieder ab und schluckte ein paarmal heftig, wie um seine Rührung zu verbergen. Ein seltsames Lächeln, halb glücklich, halb verzweifelt, lief über seine gutmütigen Züge. Und dann hub er von neuem an, mit verlegen schwankender Stimme, durch die doch die Rührung durchzitterte: »...aber Goldkind ... was sind das für Sachen!«
Sie lachte mutwillig auf, schlüpfte mit ihrem Arm in seinen und schritt neben dem stattlichen alten Herrn, dem sie kaum bis zur Schulter reichte, dem Ausgang zu.
»Die Standpauke kommt erst später, Papa!« sagte sie, mit dem Finger drohend ... »...in ein paar Tagen will ich sie über mich ergehen lassen, wenn ich mich erst hier eingelebt und Posen vergessen hab' ... denn nun wirst du mich nicht mehr los ... das sag' ich dir gleich ...«
»Ich hab' dir auch was mitgebracht,« plauderte sie fort, da der Kammerherr nichts erwiderte ... »...rate einmal: Eine Flasche feinstes Danziger Goldwasser ... weil du doch gern vor Tisch dein Gläschen trinkst ... auf dem Weg zum Bahnhof hab' ich's noch gekauft und im Arm wie ein kleines Kind davongetragen ... als Versöhnungsgeschenk ... weißt du...«
Ihr Vater blieb stehen. »Aber Herzchen ... woher hattest du denn zu dem allen das Geld?«
»Gespart!« Seine schöne Tochter sah ihn stolz an ... »...fünfzig Mark hab' ich gespart. Jetzt ist noch eine davon übrig. Die kriegt der Kofferträger.«
Der alte Herr seufzte leise vor sich hin und wandte sich zu dem Dienstmann hinter ihnen. »Tragen Sie das Gepäck zur Paketfahrt,« befahl er mit seiner knarrenden Grandseigneur-Stimme und fuhr, zu Thea gewendet, fort: »die Kerle besorgen den Koffer umgehend in die Wohnung und wir sparen die Frühdroschke. Es ist nicht weit!«
»Wir sparen die Droschke!« Thea stand ganz erstaunt da, während der alte Herr die Sache an der Barre der Packetfahrt ordnete. Papa und sparen! Das war das Neueste. Aber wenn es ihm Spaß macht ... Sie nickte ihm zu, als er zurückkam ... »...ich trete mir gerne die Beine ein bißchen aus nach der langen Fahrt!«
So gingen sie langsam die Friedrichstraße entlang bis zu den Linden.
Noch trug die vornehme Avenue nicht ihr Feiertagsgewand. Das Volk der Arbeit belebte sie ausschließlich in dieser frühen, kühlen Morgenstunde. Verschlafene Kommis, gähnende Hausdiener, eilig frisierte Ladenmädchen, auf dem Fahrdamm die Milchwagen, die Gefährte der Müllabfuhr, die Kolonne der Straßenfeger, da ein Schutzmann, in seinen Mantel gewickelt, auf regungslosem Roß, zerlumpte Zeitungsträgerinnen, Maurergesellen, graues Volk unter grauem Himmel – unwillkürlich beschleunigte Thea ihre Schritte. Dieser erste Anblick von Berlin befriedigte sie nicht.
Der alte Herr aber ging immer langsamer, während sie die andere Seite der Friedrichstraße erreichten und bald in eine Seitenstraße einbogen. Ein, zweimal blieb er sogar stehen, warf einen unsicheren Blick auf seine Tochter und setzte dann mühsam die etwas zittrigen Beine wieder in Bewegung.
»Wie komisch!« sagte Thea und sah mit ihren glänzenden Augen nach rechts und links ... »...Da ist man plötzlich wie in einer kleinen Stadt! Die enge, holperige Gasse ... und die niedrigen, alten Häuser ... das macht alles so einen verwahrlosten Eindruck ... so wie vor hundert Jahren ...«
»Das ist die Mauerstraße ...« erwiderte der alte Herr und dann, mit einem plötzlichen Entschluß ... »...da wohne ich, mein Kind!«
»Hier, Papa?«
»Nun ... es ist sehr ruhig hier ... das ist für einen alten Mann wie mich angenehm ... und dann ... die Mieten in Berlin, liebe Thea ... die Mieten sind ja entsetzlich teuer ...«
»Aber doch nicht da?« Sie wies entsetzt auf das Haus, vor dem er stehen blieb.
Es war eines der ältesten und unscheinbarsten. Kleine Fenster in einer schmutzigen, vielfach vom Bewurf entblößten Wand. Unten ein Schusterkeller, und an einem Treppenvorbau ein Wildprethandlung, dazwischen ein großes, offenstehendes Einfahrtstor. Verwitterte Papptafeln hingen schief um dies Portal und gaben den Vorübergehenden kund, daß im zweiten Vorderstock möblierte Zimmer, im Hinterhaus Schlafstellen an solide Arbeiter zu vergeben seien. Durch die Torwölbung sah man auf den Hof des Hinterhauses. Ein paar Metzger hantierten da in einem hallenartigen Raum an einer Hirschkuh herum und zogen dem beinahe pferdegroßen Tier das Fell ab. Daneben stand ein blutbespritzter Wagen.
»Aber Papa?« Thea begriff das nicht. Sie hatte sich unwillkürlich so etwas wie ihr schmuckes, parkumgebenes Schlößchen in Rhena vorgestellt ... und nun dies finstere, rauchige Gebäude ... wie ging denn das nur zu?
Der alte Herr nickte. »Komm nur!« sagte er Und trat ein, ohne sie anzusehen ... »...ich bewohne schon seit einem halben Jahr den ersten Stock hier ... und bin eigentlich ganz zufrieden ...«
Die letzten Worte sprach er so unsicher und leise, daß das Knarren der Holztreppe sie fast verschlang. Es war eine steile, dunkle Treppe mit abgerissenem Geländer und beschmutzten Stufen. An ihrem ersten Absatz stand die Tür zur Wohnung links weit offen.
»Da wären wir zu Hause«, sagte der Kammerherr schwer atmend und schob Thea sanft in den engen Flur hinein. »Und hier« ... er stieß eine Türe auf ... »...hier hab' ich vorderhand das Nötigste für dich richten lassen.«
Es war ein kleines, nach dem Hofe zu gehendes, aber ganz behaglich eingerichtetes Zimmer. Thea ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah stumm zu ihrem Vater empor.
Der ging in dem bescheidenen Raume auf und ab und rückte, anscheinend zwecklos, dies und jenes zurecht. »Eigentlich ist es das Zimmer meiner Haushälterin ...« er beugte sich gleichgültig über den Schreibtisch, um etwas Staub mit dem Seidentuch zu entfernen ... »...aber ich habe die Person gestern abend entlassen. Es traf sich gerade so. Sie war frech und diebisch. Schließlich kann man auch im Restaurant essen. Und die Aufwartung wird Frau Kautz, die Frau von dem Schuster unten, gern besorgen!«
Das war ihr Papa? ... der sonst einen eigenen Kammerdiener nur für sich und seine zahllosen kleinen Bedürfnisse brauchte? ... Er, der Grandseigneur, in diesem Hause, von einer Schustersfrau gewartet ...?
Sie stand auf. »Du hast wohl viel Geld verloren in letzter Zeit, Papa?« fragte sie verstört.
Der alte Herr nickte trübe: »...siehst es ja, mein Herzchen ... siehst es ja! ... Nun ... zum Leben langt's ja noch ... ich lass' dich jetzt allein ...« er ging, wie um weitere Erörterungen abzuschneiden, zur Schwelle ... »...wenn du fertig bist, so mache nur die Türe gerade gegenüber auf ... da bin ich!«
Sie öffnete ganz mechanisch die kleine Reisetasche,