Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de Maupassant
liegt. Wir können es ja noch nicht wissen.«
Er überlegte und sagte:
»Ja, das ist möglich, weil wir doch seine besten Freunde waren, wir beide. Zweimal in der Woche war er bei uns zu Tisch und kam zu jeder Stunde. Er war bei uns wie zu Hause. Er liebte dich wie ein Vater und er hatte keine Familie, keine Kinder, keine Geschwister, nur einen Neffen, einen entfernten Neffen. Ja, es muß ein Testament da sein. Ich verlange nichts Großes von ihm, nur eine Kleinigkeit, etwas, was uns beweisen wird, daß er uns liebte und an uns gedacht hatte und die Neigung zu schätzen wußte, die wir für ihn hatten. Er schuldet uns einen Beweis seiner Freundschaft.«
Sie sagte mit einer nachdenklichen gleichgültigen Miene: »Ja, es ist sehr gut möglich, daß ein Testament vorhanden ist.«
Als sie nach Hause kamen, reichte der Diener Madeleine einen Brief. Sie öffnete ihn, und überreichte ihn ihrem Mann:
»Herr Lamaneur
Notar 17, rue des Vosges
Gnädige Frau!
Ich bitte Sie ergebenst, in einer wichtigen Angelegenheit mich am Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag von zwei bis vier in meinem Bureau aufsuchen zu wollen.
Ich verbleibe usw.
Lamaneur.«
Georges errötete und sagte:
»Das wird es sein. Es ist merkwürdig, daß er dich auffordert und nicht mich, der eigentlich der gesetzliche Familienvorstand ist.«
Sie antwortete zuerst nichts und sagte dann nach kurzem Besinnen:
»Wollen wir gleich beide hingehen.«
»Ja, ich bin bereit.«
Sobald sie gefrühstückt hatten, machten sie sich auf den Weg.
Als sie in das Bureau des Herrn Lamaneur kamen, erhob sich der Bureauvorsteher mit einer auffallenden Dienstfertigkeit und führte sie zu seinem Chef.
Der Notar war ein kleiner, vollkommen runder Mann. Sein Kopf glich einer Kugel, die auf einer anderen größeren Kugel aufgesetzt war, diese zweite Kugel wurde von zwei Beinen getragen, die ihrerseits so klein und kurz waren, daß sie auch wie zwei runde Kugeln aussahen.
Er begrüßte sie, bat Platz zu nehmen; dann wandte er sich an Madeleine:
»Madame, ich habe Sie hergebeten, um Sie von dem Inhalt des Testaments des Grafen Vaudrec in Kenntnis zu setzen, das Sie betrifft.«
Georges konnte sich nicht enthalten und flüsterte:
»So hab’ ich’s mir auch gedacht.«
Der Notar setzte hinzu:
»Ich will Ihnen gleich das Testament vorlesen, es ist übrigens ganz kurz.« Er nahm aus einer Mappe, die vor ihm lag, einen Bogen heraus und las: »Ich, Endesunterzeichneter, Paul-Emile-Cyprien-Gontran Comte de Vaudrec, gesund an Körper und Seele, bestimme hiermit meinen letzten Willen. Da der Tod uns in jedem Augenblicke treffen kann, so will ich in Voraussetzung seines Eintrittes, mein Testament niederschreiben, das bei dem Notar Lamaneur hinterlegt wird.
Da ich keine direkten Erben habe, hinterlasse ich mein gesamtes Vermögen, bestehend aus Wertpapieren in Höhe von ca. 600000 Francs und aus Immobilien in Höhe von ca. 500000 Francs, Madame Claire-Madeleine Du Roy als ihr unbelastetes freies Eigentum. Ich bitte sie, diese Gabe eines toten Freundes als Beweis einer aufrichtigen, tiefen und ergebenen Zuneigung entgegenzunehmen.«
Der Notar fuhr fort:
»Das ist alles. Dieses Schriftstück ist vom August letzten Jahres datiert und ist an Stelle eines gleichlautenden Dokumentes getreten, das vor zwei Jahren auf den Namen von Claire-Madeleine Forestier ausgestellt war. Auch dieses erste Dokument befindet sich in meinem Besitz, und im Falle einer Anfechtung von selten der Verwandten könnte man damit beweisen, daß der Graf de Vaudrec seinen Willen nicht geändert hatte.«
Madeleine wurde blaß und blickte hinunter auf ihre Füße. Georges drehte nervös seinen Schnurrbart zwischen den Fingern. Nach einer kurzen Pause fuhr der Notar fort:
»Selbstverständlich, mein Herr, kann Madame diese Hinterlassenschaft nur mit Ihrer Zustimmung annehmen.«
Du Roy stand auf und sagte in trocknem Tone:
»Ich bitte um Bedenkzeit.«
Der Notar lächelte, und sagte mit liebenswürdiger Stimme:
»Ich begreife die Bedenken, die Sie zaudern lassen. Ich habe noch hinzuzufügen, daß der Neffe des Grafen Vaudrec, als er heute früh von dem letzten Willen seines Onkels Kenntnis nahm, sich bereit erklärte, denselben anzuerkennen, falls man ihm die Summe von hunderttausend Francs auszahlte. Nach meiner Ansicht ist das Testament unanfechtbar, aber ein Prozeß würde Aufsehen erregen, was Sie wahrscheinlich vermeiden wollen. Die Welt urteilt bekanntlich oft sehr boshaft. Jedenfalls würde ich Sie bitten, mich noch vor Sonnabend von Ihrem definitiven Entschluß über alle Punkte in Kenntnis zu setzen.«
Georges verbeugte sich:
»Gut, Herr Lamaneur.«
Dann verabschiedete er sich feierlich, ließ seine Frau, die gar nichts mehr sagte, vorangehen und verließ das Bureau in so steifer und gemessener Weise, daß der Notar nicht mehr lächelte.
Sobald sie nach Hause gekommen waren, schloß Du Roy heftig die Tür hinter sich und warf seinen Hut aufs Bett.
»Du bist Vaudrecs Geliebte gewesen?«
Madeleine hatte ihren Schleier abgelegt und drehte sich schroff um:
»Ich, oh!«
»Ja, du. Man hinterläßt nicht einer Frau sein ganzes Vermögen … ohne daß …«
Sie begann zu zittern und konnte nicht die Nadeln fassen, mit denen ihr durchsichtiger Schleier ans Haar befestigt war.
Sie dachte einen Augenblick nach und stammelte mit erregter Stimme:
»Hör mal … du bist verrückt … du bist … du bist … und du selbst … du hast ja vorher — auch gehofft … er würde dir auch etwas vermachen.«
Georges stand vor ihr und beobachtete sie, wie ein Untersuchungsrichter, der die geringsten Schwächen des Angeklagten zu entdecken sucht. Er erwiderte, indem er jedes Wort betonte:
»Ja … mir hätte er was hinterlassen können, mir, deinem Gatten … mir, seinem Freunde … verstehst du … Dir doch nicht … dir, seiner Freundin … dir, meiner Gattin … Der Unterschied ist sehr wesentlich und sogar ausschlaggebend vom Standpunkt der öffentlichen Meinung … in den Augen der Gesellschaft …«
Madeleine blickte ihm gleichfalls scharf in die durchsichtigen Augen, tief und sonderbar, als wollte sie in die unbekannten Tiefen seines Wesens eindringen, die man nur selten in flüchtigen Augenblicken erfassen kann, in den Augenblicken der Achtlosigkeit, der Vergeßlichkeit des Sichgehenlassens, die dann wie halbgeöffnete Türen sind, die in die geheimnisvollen Abgründe der Seele führen.
Sie versetzte langsam:
»Mir scheint doch … daß, wenn … daß man eine Erbschaft in dieser Höhe von ihm zu deinen Gunsten mindestens ebenso auffallend gefunden hätte.«
Er fragte heftig:
»Warum?«
»Weil« … sagte sie, und nach kurzem Zaudern fuhr sie fort:
»Weil du mein Mann bist … und ihn erst seit kurzer Zeit kennst, während ich schon sehr lange mit ihm befreundet war … und weil sein erstes Testament, das noch zu Lebzeiten Forestiers abgefaßt war, doch mir galt.«
Georges ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und erklärte:
»Du kannst das nicht annehmen.«
»Gut,« antwortete sie gleichgültig, »also dann brauchen wir erst gar nicht bis Sonnabend zu warten. Wir können diesen Entschluß Herrn Lamaneur sofort mitteilen.«
Er