Gesammelte Werke. Ernst Wichert
das Boot ab und trieb es mit kräftigen Ruderschlägen gegen den Strom.
10. IM WALDHAUSE
Eine Woche später begegnen wir gegen Abend dem Junker Heinz von Waldstein zu Pferde auf der Landstraße zwischen Graudenz und Engelsburg. Er trug hohe Reitstiefel, die bis über das Knie reichten, und lange Radsporen daran, die in den Weichen des jungen Tieres schon kenntliche Spuren hinterlassen hatten. Am Sattelknopf hing auf der einen Seite ein leichter Brustharnisch, auf der anderen der dazugehörige Eisenhut und eine Armbrust. Hinten war der Mantel aufgeschnallt.
Der Komtur hatte ihn zur Kriegsreise ausgerüstet, soweit dies in Schwetz möglich gewesen war. Den Gaul kaufte er für ihn aus der Stuterei des Herrn Both zu Ilenburg, der ein begüterter Landesritter seines Gebietes war, und zahlte dafür dreißig Mark, eine beträchtliche Summe. Die Plate gehörte ihm eigentümlich, und er gab sie ihm zum Geschenk. Die Armbrust hatte Heinz dem Junker Lorenz von Lankendorf abgewonnen, da der mit ihr bei einem Besuch auf dessen Gut einen Schuß getan, auf den jener gewettet hatte. Was zur Rüstung noch fehlte, sollte in der Stadt Marienburg ergänzt werden, wo tüchtige Waffenschmiede arbeiteten. Einen Brief an den Hochmeister hatte er zu seiner Empfehlung mitbekommen und in der Gürteltasche sorgsam neben seinem Gelde aufbewahrt.
Nach des Komturs Meinung sollte er auf dem linken Weichselufer über Neuenburg und Mewe reisen; er hatte sich aber schon mit der Graudenzer Fähre übersetzen lassen. Nur seine Schwester hatte beim Abschied erfahren, daß er den Umweg über Buchwalde zu nehmen gedenke, und durch ihr Erröten bewiesen, daß sie wohl merke, weshalb er dies mitteile. Sie hatte ihm erlaubt, den Freund zu grüßen, auch auf seine Bitte eine kleine Locke von ihrem goldigen Haar abgeschnitten, ohne zu fragen, für wen sie bestimmt sei. Bruder und Schwester waren sehr vertraut miteinander geworden; sie wußte auch, was der kleine Ring mit dem blauen Vergißmeinnicht bedeutete.
Es war ein schwüler Tag gewesen, und noch jetzt, da die Sonne schon tief stand und rund um den Horizont Wolken aufgezogen, fühlten Mann und Pferd die drückende Hitze. Ein Gewitter mußte im Anzuge sein.
Er hoffte, vor Nacht Buchwalde erreichen zu können, auch wenn er den Gaul im Schritt gehen ließ, durfte dann aber keinen Aufenthalt haben. Deshalb kehrte er in der hoch auf dem Berge gelegenen Engelsburg bei deren Komtur Burghard von Wobecke nicht ein, sondern ließ sich nur vor dem Kruge eine Kanne Bier aufs Pferd reichen und ritt sogleich weiter nach dem großen Dorfe Okonin, dessen Kirchturm bald sichtbar wurde. Von hier führte die breite Landstraße halb rechts nach der Burg und Stadt Rheden, nur eine Meile entfernt. Da aber Buchwalde nördlich von diesem Orte liegen und ein Richtweg über Gut Kressau eine Stunde früher zum Ziele bringen sollte, bog er hinter dem Dorfe links ab und befand sich nun bald mitten in einem dichten Laubwalde, der angenehme Kühlung gewährte.
Eine Strecke weit ging das, was man bei bescheidenen Ansprüchen allenfalls einen Weg nennen konnte, in gerader Richtung fort. Hinter einer Waldblöße aber, von der augenscheinlich nur vor kurzem das Holz nach Okonin abgefahren war, verlor sich die Wagenspur. Blieben auch in dem weichen Moorboden noch eine Zeitlang die Eindrücke von Pferdehufen sichtbar, so kreuzten sich doch bald verschiedene solcher Waldpfade, so daß die Wahl schwer wurde. An einem Sumpf war Heinz genötigt umzukehren und einige hundert Schritt rückwärts einen Fußpfad links einzuschlagen. Seine zahlreichen Windungen um alte Bäume oder Steinblöcke herum machten es dem Reiter unmöglich, zu prüfen, ob er im ganzen die vorgeschriebene Richtung einhalte, und da sich nun auch die Sonne hinter den schwarzen Wolken versteckte und damit jede sichere Marke verlorenging, blieb ihm nichts übrig, als den Zügel lose auf den Hals des müden Pferdes zu hängen und dem Spürsinn desselben zu vertrauen. Er zweifelte übrigens nicht, daß er auf jedem Wege wieder ins Freie kommen müßte, da Hans ihm gesagt hatte, daß die Gegend um Engelsburg und Rheden gut angebaut sei.
Vielleicht wären unter gewöhnlichen Umständen seine Erwartungen auch nicht getäuscht worden. Nun aber schüttelte plötzlich ein heftiger Sturm die Kronen der Bäume, das letzte Fleckchen Blau am Himmel verschwand unter der finsteren Wolkenmasse, die sich von allen Seiten zusammenzog, und in dem dichten Walde wurde es bald völlige Nacht. Nach wenigen Minuten schon zuckten rechts und links Blitze, das Auge blendend; der Donner, der anfangs nur in der Ferne rollte, wurde lauter und lauter – Blitz folgte auf Blitz, Schlag auf Schlag. Das Pferd scheute und wollte nicht vorwärts. So sprang denn der Junker ungeduldig ab, zog den Zügel über Hals und Kopf und zerrte es hinter sich fort.
Aber von einem Pfade war nun nichts mehr zu erkennen. Mitunter sah er, wenn der Blitz aufleuchtete, rundum nur dichtes Brombeergebüsch, ein andermal lief er gegen einen mächtigen Baumstamm. Zu allem Unglück fing nun auch ein wütender Gewitterregen an niederzuprasseln. Nur kurze Zeit gewährten die Laubkronen einigen Schutz; bald tropfte es von allen Blättern, und dann war's, als ob die Schleusen des Himmels sich öffneten und ganze Bäche niederströmten.
Weiterzugehen war nicht schlimmer als abzuwarten. Die Nacht im nassen Walde zuzubringen gehörte zu den unerfreulichsten Aussichten, und vielleicht war der Rand desselben bald erreicht und ein schützendes Obdach in der Nähe. Schon länger als eine Stunde war er so herumgeirrt und wollte die Zeit nicht verloren haben. Auch konnte der Gewitterregen, so heftig er niederströmte, unmöglich lange anhalten.
Er suchte sich also weiter einen Weg, indem er nun dem Laufe des Wassers folgte, das aus Hunderten von schmalen Erdrinnen zwischen Hecken und Steinen einen Abfluß anstrebte. Der Sturm ließ nach, der Regen floß mit längeren Unterbrechungen. Nach einer Weile wurde es plötzlich hinter den Baumstämmen lichter, und das gleichmäßige Rauschen, das sein Ohr ganz deutlich aus der Nähe vernahm, konnte nicht durch die Bewegung der Laubkronen verursacht sein. Nach wenigen Schritten schon überzeugte er sich, daß er sich an dem Ufer eines breiten Stromes oder Landsees befand, der hohe Wellen schlug und in den die Regenbäche geräuschvoll einmündeten. Er entschloß sich, rechts abzubiegen, weil sich nach dieser Seite hin das Ufer erhöhte, der Waldboden also weniger naß zu werden versprach.
Nach einigen Minuten gelangte er zu einer wallartigen Erhöhung des Erdreichs. Sie war zu geradlinig, als daß sie der Natur ihr Entstehen hätte verdankt haben können. Weiter ab vom See zeigte sich auch die Spur eines Grabens, und indem er ihr folgte, kam er an eine scharfe Ecke, hinter der sich Wall und Graben fortsetzten. Er zweifelte nun nicht mehr, hier eine menschliche Ansiedlung zu finden, band sein Pferd mit dem Zügel an einen Baumast und kletterte die ziemlich steile Böschung hinan, sich erst einmal in der Umwallung umzuschauen.
Noch hatte er die Krone nicht erreicht, als sich vor ihm eine graue Gestalt aufrichtete. Eine fistulierende Stimme redete ihn mit heftigen Worten in einer Sprache an, die er nicht verstand. Da inzwischen der Himmel klar geworden war, vermochte er im Dämmerlicht zu erkennen, daß er ein altes Weib vor sich hatte, das beschäftigt gewesen war, mit einem langen Messer Wurzeln auszustechen. Gute Frau, sagte er freundlich, ich bin verirrt und suche ein Obdach für mich und mein Pferd. Wenn Ihr mir's nachweist, soll es Euer Schade nicht sein.
Hier kein Haus, kein Stall – zurück da! antwortete die Alte in gebrochenem Deutsch, indem sie sich ihm drohend mit dem Messer entgegenstellte.
Das kann nichts helfen, meinte er, ich muß ein Unterkommen für die Nacht haben, und wenn Ihr Euch nicht auf leichte Weise ein Stück Geld verdienen wollt, so behalte ich's in der Tasche und gehe allein dem Rauch nach, der mir von dort her in die Nase steigt. Nun? –
Die Alte vertrat ihm den Weg. Teufel soll holen! rief sie. Hier nichts zu suchen – keine Rauch, keine Mensch – fort da, oder –!
Es folgten wieder heftige Reden in der fremden Sprache, die wie Flüche klangen. Das Messer blitzte.
Er schob sie beiseite, daß sie ins Gras taumelte, und stieg weiter den Wall hinauf. Die Alte aber steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen schrillen Pfiff ertönen, mehrmals in kurzen Absätzen. Nun hatte er aber auch die Höhe erreicht und erkannte im innern Wallraum unter den Bäumen die Dächer von niedrigen Hütten. Ihm fiel ein, was Freund Hans von einem solchen umwallten Wohnplatz der heidnischen Preußen am Melno-See erzählt hatte, und er zweifelte nicht,