Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
200 zu kommen. Denn eine kurze Lebenszeit ist lang genug zu einem guten und rechtschaffenen Leben. Ist man aber weiter vorgeschritten, so ist es eben so wenig zu beklagen, als es die Landleute beklagen, wenn nach vergangener Anmuth der Frühlingszeit der Sommer und Herbst kommt. Denn der Frühling bezeichnet gleichsam das Jünglingsalter und zeigt die künftigen Früchte; die übrigen Jahreszeiten aber sind zum Einärnten und Genießen der Früchte geeignet. 71. Die Frucht des Greisenalters aber besteht, wie ich schon oft gesagt habe, in der reichen Erinnerung der vorher erworbenen Güter. Alles aber, was naturgemäß geschieht, muß man für ein Gut halten. Was ist aber so naturgemäß, als daß die Greise sterben? Dieß widerfährt aber auch jungen Leuten mit Widerstand und Widerstreben der Natur. Daher scheinen mir junge Leute so zu sterben, wie wenn die Gewalt der Flamme durch eine Menge Wasser erstickt wird, Greise hingegen so, wie wenn ein von selbst, ohne Anwendung von Gewalt, sich verzehrendes Feuer erlischt. Und gleichwie das Obst, wenn es noch unreif ist, sich nur mit Mühe von den Bäumen abreißen läßt, wenn es aber reif und durch die Sonne gezeitigt ist, abfällt; so nimmt jungen Leuten die Gewalt, alten die Reife das Leben. Und diese ist mir wenigstens so erfreulich, daß, je näher ich dem Tode rücke, ich gleichsam Land zu sehen und nach einer langen Seefahrt endlich einmal in den Hafen zu kommen glaube.
XX.
201 72 Das Greisenalter hat aber keine bestimmte Gränze, und man lebt in demselben gut, so lange man seine Berufspflicht erfüllen und behaupten kann 202. Daher kommt es, daß das Greisenalter sogar beherzter und muthvoller ist als die Jugend. Hieraus läßt sich jene Antwort erklären, die Solon dem Machthaber Pisistratus 203 gab. Als nämlich dieser ihn fragte, auf welche Hoffnung er ein so großes Vertrauen setze, daß er so kühnen Widerstand leiste, soll er geantwortet haben: »Auf mein Alter.«
[73] Aber das ist das beste Lebensende, wenn bei ungeschwächter Geisteskraft und gesunden Sinnen die Natur selbst das Werk, das sie zusammengefügt hat, auch wieder auflöst. Sowie ein Schiff, sowie ein Gebäude eben der am Leichtesten niederreißt, der es gebaut hat; ebenso löst auch den Menschen die Natur, die ihn zusammengefügt hat, am Besten wieder auf. Nun läßt sich aber jede noch frische Zusammenfügung nur mit Mühe, eine altgewordene hingegen mit Leichtigkeit auseinanderreißen. Hieraus folgt, daß Greise jenen kurzen Ueberrest des Lebens weder begierig suchen noch ohne Grund aufgeben dürfen. Daher verbietet Pythagoras 204 ohne Geheiß des Heerführers, das heißt Gottes, von dem Wachtposten des Lebens abzutreten. Von dem weisen Solon gibt es freilich eine Grabschrift, in der er erklärt, er wünsche nicht, daß sein Tod des Schmerzes und der Klagen seiner Freunde entbehre 205
Μηδέ μοι άκλαυστος θάνατος μόλοι, αλλὰ φίλοισι
Καλλείποιμι θανὼν άλγεα καὶ στοναχάς.
Cicero hat dasselbe Tuscul. I. 49, 117 so übersetzt:
Mors mea ne careat lacrimis; linquamus amicis
Moerorem, ut celebrent funera cum gemitu.
Nemo me lacrumis decoret nec funera fletu
Fexit. Cur? Volito vivus per ora virum.
Niemand möge mit Thränen mich ehren noch klagend bestatten!
Er urtheilt, der Tod sei nicht zu betrauern, auf den die Unsterblichkeit folge.
74. Nun kann beim Sterben wol einige Empfindung stattfinden, doch nur auf kurze Zeit, zumal bei einem Greise. Nach dem Tode aber ist die Empfindung wünschenswerth, oder es ist keine vorhanden. Aber man muß sich von Jugend auf durch Nachdenken darauf vorbereiten, daß man sich um den Tod nicht kümmere. Denn ohne diese Vorbereitung kann Niemand ruhigen Gemüthes sein. Sterben muß man ja gewiß; nur das ist ungewiß, ob nicht noch an demselben Tage. Wer nun den zu allen Stunden bevorstehenden Tod fürchtet, wie kann der eine feste Stimmung behaupten?
75. Hierüber scheint mir nicht eben eine lange Erörterung nöthig zu sein, wenn ich mir vergegenwärtige, nicht etwa den Lucius Brutus 206, der bei der Befreiung des Vaterlandes getödtet wurde; nicht die beiden Decier 207, die zum freiwilligen Tode ihre Rosse anspornten; nicht den Marcus Atilius 208, der zur Todtenmarter abreiste, um sein dem Feinde gegebenes Wort zu erfüllen; nicht die beiden Scipionen 209, die den Puniern sogar mit ihren Leibern den Weg versperren wollten; nicht deinen Großvater Lucius Paullus 210, der die Verwegenheit seines Amtsgenossen in der Niederlage bei Cannä mit dem Tode büßte; nicht den Marcus Marcellus 211, dessen Tod nicht einmal der grausamste Feind der Ehre des Begräbnisses entbehren ließ 212, sondern unsere Legionen, die, wie ich in meiner Urgeschichte 213 niedergeschrieben habe, sich mit freudigem und aufgerichtetem Muthe oft an Orte begaben, von wo sie nie zurückzukehren glaubten. Was also junge Männer, und zwar nicht allein ungebildete, sondern auch Leute vom Lande gering achten, davor sollten sich gebildete Greise fürchten?
76. Ueberhaupt verursacht, wie es mir wenigstens scheint, die Sättigung aller Lieblingsbeschäftigungen auch Sättigung des Lebens. Die Kindheit hat ihre bestimmten Lieblingsbeschäftigungen. Haben nun wol die Jünglinge Verlangen nach diesen? Auch das angehende Jünglingsalter hat solche. Sehnt sich wol nach ihnen das schon gesetzte Alter, das wir das mittlere nennen, nach ihnen zurück? Auch dieses Alter hat solche; aber auch nach diesen fragt das Greisenalter nicht. Zuletzt gibt es auch gewisse Lieblingsbeschäftigungen des Greisenalters. Sowie also die Beschäftigungen des früheren Lebensalters absterben, so sterben auch die des Greisenalters ab. Und erfolgt dieß, so bringt die Sättigung des Lebens den Zeitpunkt herbei, der uns zum Tode reif macht.
XXI.
77. Ich sehe nicht ein, warum ich es nicht wagen sollte euch meine Gedanken über den Tod vorzutragen, wovon ich eine um so bessere Einsicht zu haben meine, je näher ich demselben stehe. Ich bin der Ansicht, daß euere Väter 214, Publius Scipio, und du, Gajus Lälius, Männer, die das größte Ansehen besaßen und mir höchst befreundet waren, leben, und zwar ein Leben, das allein den Namen »Leben« verdient. Denn so lange wir in diese Schranken des Körpers eingeschlossen sind, verrichten wir ein gewisses Amt des unvermeidlichen Verhängnisses. Der himmlische Geist ist nämlich aus seiner so erhabenen Heimat herabgedrückt und gleichsam herabgesenkt auf die Erde, einen seinem göttlichen und ewigen Wesen unangemessenen Ort. Aber ich glaube, die unsterblichen Götter haben die Seelen in die menschlichen Körper eingepflanzt, damit es Wesen gebe, welche die Erde in Obhut nehmen und welche, die Ordnung der Himmelskörper betrachtend, dieselbe in Maßhaltung und Gleichmäßigkeit ihres Lebens nachahmen 215.