Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
ein aufgeklärtes, vernünftiges Volk, das Welt und Natur mit durch die Wissenschaft geöffneten Augen betrachtet, würde die Herrschaft der Priester abwerten und sie nicht mehr als höchste Macht und Quelle aller Gnade auf Erden ansehen. Indem er also die ursprünglichen Lehren des Christentums, die gerade das irdische Glück der Geringsten erstrebten, abändert und verfälscht, redet der heutige Klerus dem Volk ein, es leide Not und Erniedrigung nicht auf Grund der schändlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auf Befehl des Himmels, durch Fügung der Vorsehung. Und dadurch eben tötet die Kirche im arbeitenden Menschen den Geist, tötet in ihm die Hoffnung und den Willen nach besserer Zukunft, tötet in ihm den Glauben an sich selbst und seine Kraft, die Achtung vor der eigenen menschlichen Würde. Die heutigen Priester halten sich mit ihren falschen und den Geist vergiftenden Lehren dank der Dumpfheit und Erniedrigung des Volkes und wollen diese Dumpfheit und Erniedrigung für ewige Zeiten bewahren.
Es gibt dafür unschlagbare Beweise. In den Ländern, wo der katholische Klerus allmächtig über das Denken des Volkes herrscht wie in Spanien und Italien, dort herrschen auch größte Dumpfheit und – größtes Verbrechen. Nehmen wir beispielsweise zwei Länder in Deutschland zum Vergleich: Bayern und Sachsen. Bayern ist hauptsächlich ein Bauernland, wo der katholische Klerus noch großen Einfluß auf das Volk hat. Sachsen ist dagegen ein hochindustrialisiertes Land, wo die Sozialdemokratie schon seit langen Jahren Einfluß auf die arbeitende Bevölkerung hat. In Sachsen sind zum Beispiel in fast allen Wahlkreisen Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt worden, wodurch dieses Land bei der Bourgeoisie verhaßt und als „rot“, sozialdemokratisch, verschrien ist. Und was ergibt sich? Amtliche Berechnungen zeigen, daß, wenn man die Zahl der im Laufe eines Jahres im klerikalen Bayern und im „roten“ Sachsen begangenen Verbrechen vergleicht (im Jahre 1898), auf 100.000 Personen bei schwerem Diebstahl in Bayern 204, in Sachsen 185 Fälle kommen, bei Körperverletzungen in Bayern 296, in Sachsen 72, bei Meineid in Bayern 4, in Sachsen 1. Ebenso, wenn man die Zahl der Verbrechen im Posenschen betrachtet, so gab es im selben Jahr auf 100.000 Menschen 232 Körperverletzungen, in Berlin 172. Und in Rom, dem Sitz des Papstes, wurden im vorletzten Jahr des Bestehens des Kirchenstaates, d.h. der weltlichen Macht des Papstes im Jahre 1869, in einem Monat 279 Menschen wegen Mordes, 728 wegen Körperverletzung, 297 wegen Raubes und 21 wegen Brandstiftung verurteilt! Das waren die Früchte einer ausschließlichen Herrschaft der Geistlichkeit über das Denken der armen Bevölkerung.
Das heißt natürlich nicht, daß die Geistlichkeit zum Verbrechen ermuntert, im Gegenteil, mit den Lippen reden die Priester viel gegen Diebstahl, Raub und Trunksucht. Aber bekanntlich stehlen, schlagen und trinken die Menschen nicht aus Eigensinn oder Neigung, sondern aus zwei Gründen: aus Not und Dumpfheit. Wer also das Volk in Not und Dumpfheit hält, wie es die Geistlichkeit tut, wer im Volk den Willen und die Energie zu einem Ausweg aus Not und Dumpfheit tötet, wer auf jede Weise diejenigen behindert, die das Volk bilden und aus der Not emporheben wollen, der ist ebenso verantwortlich für die Verbreitung von Verbrechen und Trunksucht, als ob er dazu ermuntern würde.
Und ebenso ging es bis vor kurzem in den Bergbaugebieten des klerikalen Belgien zu, bis die Sozialdemokraten kamen und dem unglückseligen, erniedrigten belgischen Arbeiter laut zuriefen: steh auf, Arbeiter, erhebe dich aus deiner Erniedrigung, schlage nicht, trinke keinen Alkohol, laß nicht vor Verzweiflung den Kopf hängen, sondern lies, bilde dich, schließe dich mit deinen Brüdern in einer Organisation zusammen, kämpfe gegen die Ausbeuter, die dich aussaugen, und du wirst dich aus der Not erheben, du wirst ein Mensch sein!
So bringen die Sozialdemokraten überall dem Volk die Auf-Erstehung, stärken die Verzweifelten, verbinden die Schwachen zu einer Macht, öffnen den Dumpfen die Augen, zeigen den Weg der Befreiung und rufen das Volk auf, das Königreich der Gleichheit, Freiheit und Nächstenliebe auf der Erde zu errichten. Die Diener der Kirche rufen das Volk dagegen überall nur zu Demut, Verzweiflung und geistigem Tod auf. Wenn Christus heute auf der Erde erschiene, so würde er sicher mit diesen Priestern, Bischöfen und Erzbischöfen, die die Reichen schützen und vom blutigen Schweiß von Millionen leben, dasselbe tun wie damals mit jenen Händlern, die er mit dem Stock aus der Vorhalle des Tempels vertrieb, damit sie das Haus Gottes nicht durch ihre Schandtaten befleckten.
Deshalb mußte zwischen dem Klerus, der Not und Unfreiheit des Volkes verewigen will, und den Sozialdemokraten, die dem Volk das Evangelium der Befreiung bringen, ein Kampf auf Leben und Tod entstehen wie zwischen der schwarzen Nacht und der aufgehenden Sonne. Wie die nächtlichen Schatten ungern und widerwillig vor der sonnigen Morgenröte weichen, so möchten die Kirchenfledermäuse jetzt mit ihren schwarzen Soutanen dem Volk den Kopf verhüllen, damit seine Augen nicht das aufgehende Licht der sozialistischen Befreiung erblicken. Da sie aber den Sozialismus nicht mit Geist und Wahrheit bekämpfen können, flüchten sie sich zu Gewalt und Unrecht. In der Sprache des Judas verbreiten sie schändliche Verleumdungen derjenigen, die dem Volk die Augen öffnen, durch Lüge und Verleumdung versuchen sie diejenigen zu verunglimpfen, die ihr Blut und Leben dem Volk zum Opfer bringen. Und schließlich heiligen und unterstützen diese Priester, diese Diener des goldenen Kalbes, die Verbrechen der zaristischen Regierung, segnen die Mörder des Volkes, stehen zum Schutz um den Thron des Letzten der Zarendespoten, der das Volk mit Feuer und Schwert unterdrückt, wie jener Nero in Rom die ersten Christen verfolgte!
Aber vergeblich diese Anstrengungen! Vergebens wütet ihr, entartete Diener der Christenheit, die ihr jetzt Diener Neros seid! Vergebens helft ihr unseren Mördern und Häschern, vergebens schützt ihr mit dem Zeichen des Kreuzes die Reichen und die Ausbeuter des Volkes! Wie damals keine Grausamkeiten und Verleumdungen den Sieg der christlichen Idee aufhalten konnten, dieser Idee; die ihr durch euren Dienst am goldenen Kalb befleckt habt, so halten alle eure Versuche heute nicht den Sieg des Sozialismus auf. Heute seid ihr euren Lehren, eurem ganzen Lebenswandel nach Heiden, wir aber, die wir den Armen, den Ausgebeuteten und Unterdrückten das Evangelium der Brüderlichkeit und Gleichheit bringen, wir erobern heute die Welt wie jener, der gesagt hat:
„Wahrlich, wahrlich ich sage euch, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.“
VII
Zum Schluß noch einige Worte. Die Geistlichkeit hat zwei Methoden, die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Dort, wo die Arbeiterbewegung erst beginnt, sich Bürgerrecht zu erwerben, wie gerade bei uns, und wo die herrschenden Klassen noch der Täuschung erliegen, sie mit Gewalt ersticken zu können, dort tritt der Klerus auch nur mit strengen Predigten auf, schwärzt die Sozialisten an und droht den „anmaßenden“ Arbeitern. Dort aber, wo schon politische Freiheit herrscht, und die Arbeiterpartei zu einer Macht wird wie z.B. in Deutschland, Frankreich und Holland, dort greift die Geistlichkeit auf andere Methoden zurück. Listig verbirgt sie ihre Wolfszähne und Krallen unter dem Schafspelz, und aus dem ehrlichen Feind der Arbeiter wird ihr falscher Freund. Die Priester gehen dann selbst daran, die Arbeiter zu organisieren und „christliche“ Gewerkschaften zu gründen. Sie versuchen so, die Fische vor dem Netz, d. h. die Arbeiter im Netz ihrer falschen Gewerkschaften zu fangen, wo sie sie Demut lehren, bevor sie zu den Gewerkschaften der Sozialdemokratie stoßen, die sie Kampf und Schutz vor der Ausbeutung lehrt.
Wenn die zaristische Regierung schließlich unter den Schlägen des polnischen und russischen Proletariats gefallen ist und auch bei uns die politische Freiheit aufgeht, werden wir sicher erleben, daß derselbe Erzbischof Popiel und dieselben Priester, die jetzt in den Kirchen die kämpfenden Arbeiter heftig beschimpfen, damit beginnen, sie gewaltsam in „christlichen“ und „nationalen“ Verbänden zu organisieren, um sie auf neue Art zu verdummen. Schon jetzt haben wir einen kleinen Anfang dieser Maulwurfsarbeit in den Verbänden der „Nationaldemokraten“, der zukünftigen Helfershelferin der Priester, die sie heute darin unterstützt, die Sozialdemokratie zu verunglimpfen. Deshalb müssen die Arbeiter vorbereitet sein, nicht morgen, nach dem Sieg der Revolution und der Einführung der politischen Freiheit, den süßen Worten derer auf den Leim zu gehen, die sich heute erdreisten, von der Kanzel herab das Arbeiter mordende Zarenregime und die Herrschaft des Kapitals, die das Volk ins Elend stürzt, zu verteidigen. Zum Schutz vor dieser Feindschaft der Geistlichkeit heute, während der Revolution, und vor