Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Partei der »Sozialisten-Revolutionäre«, – die Anarchisten existieren als ernste politische Richtung überhaupt in der russischen Revolution gar nicht. Nur in einer litauischen Kleinstadt mit besonders schwierigen Verhältnissen – bunte nationale Zusammenwürfelung der Arbeiter, überwiegende Zersplitterung des Kleinbetriebs, sehr tiefstehendes Proletariat –, in Bialystok, gibt es unter den sieben oder acht verschiedenen revolutionären Gruppen auch ein Häuflein halbwüchsiger »Anarchisten«, das die Konfusion und Verwirrung der Arbeiterschaft nach Kräften fördert, und letzthin macht sich in Moskau und vielleicht noch in zwei bis drei Städten je ein Häuflein dieser Gattung bemerkbar. Allein, was ist jetzt, abgesehen von diesen paar »revolutionären« Gruppen, die eigentliche Rolle des Anarchismus in der russischen Revolution? Er ist zum Aushängeschild für gemeine Diebe und Plünderer geworden; unter der Firma des »Anarcho-Kommunismus« wird ein großer Teil jener unzähligen Diebstähle und Plündereien bei Privatleuten ausgeübt, die in jeder Periode der Depression, der momentanen Defensive der Revolution wie eine trübe Welle emporkommen. Der Anarchismus ist in der russischen Revolution nicht die Theorie des kämpfenden Proletariats, sondern das ideologische Aushängeschild des kontrerevolutionären Lumpenproletariats geworden, das wie ein Rudel Haifische hinter dem Schlachtschiff der Revolution wimmelt. Und damit ist die geschichtliche Laufbahn des Anarchismus wohl beendet.
Auf der anderen Seite ist der Massenstreik in Rußland verwirklicht worden nicht als ein Mittel, unter Umgehung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse und speziell des Parlamentarismus durch einen Theatercoup plötzlich in die soziale Revolution hineinzuspringen, sondern als ein Mittel, erst die Bedingungen des täglichen politischen Kampfes und insbesondere des Parlamentarismus für das Proletariat zu schaffen. Der revolutionäre Kampf in Rußland, in dem die Massenstreiks als die wichtigste Waffe zur Anwendung kommen, wird von dem arbeitenden Volke und in erster Reihe vom Proletariat gerade um dieselben politischen Rechte und Bedingungen geführt, deren Notwendigkeit und Bedeutung im Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse Marx und Engels zuerst nachgewiesen und im Gegensatz zum Anarchismus in der Internationale mit aller Macht verfochten haben. So hat die geschichtliche Dialektik, der Fels, auf dem die ganze Lehre des Marxschen Sozialismus beruht, es mit sich gebracht, dß heute der Anarchismus, mit dem die Idee des Massenstreiks unzertrennlich verknüpft war, zu der Praxis des Massenstreiks selbst in einen Gegensatz gerathen ist, während umgekehrt der Massenstreik, der als der Gegensatz zur politischen Betätigung des Proletariats bekämpft wurde, heute als die mächtigste Waffe des politischen Kampfes um politische Rechte erscheint. Wenn also die russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht, so ist es wieder nur der Marxismus, dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen. Moors Geliebte kann nur durch Moor sterben.
II
Die erste Revision, die sich aus den Ereignissen in Rußland für die Frage vom Massenstreik ergibt, bezieht sich auf die allgemeine Auffassung des Problems. Bis jetzt stehen sowohl die eifrigen Befürworter eines »Versuchs mit dem Massenstreik« in Deutschland von der Art Bernsteins, Eisners usw., wie auch die strikten Gegner eines solchen Versuchs, wie sie im gewerkschaftlichen Lager z. b. durch Bömelburg vertreten sind, im grunde genommen auf dem Boden derselben, und zwar der anarchistischen Auffassung. Die scheinbaren Gegenpole schließen sich nicht bloß gegenseitig aus, sondern, wie stets, bedingen auch und ergänzen zugleich einander. Für die anarchistische Denkweise ist nämlich die Spekulation direkt auf den »großen Kladderadatsch«, auf die soziale Revolution nur ein äußeres und unwesentliches Merkmal. Wesentlich ist dabei die ganze abstrakte, unhistorische Betrachtung des Massenstreiks, wie überhaupt aller Bedingungen des proletarischen Kampfes. Für den Anarchisten existieren als stoffliche Voraussetzungen seiner »revolutionären« Spekulationen lediglich zwei Dinge: zunächst die blaue Luft und dann der gute Wille und der Mut, die Menschheit aus dem heutigen kapitalistischen Jammertal zu erretten. In der blauen Luft ergab sich aus dem Raisonnement schon vor 60 Jahren, dass der Massenstreik das kürzeste, sicherste und leichteste Mittel ist, um den Sprung ins bessere soziale Jenseits auszuführen. In derselben blauen Luft ergibt sich neuerdings aus der Spekulation, dass der gewerkschaftliche Kampf die einzige wirkliche »direkte Aktion der Massen« und also der einzige revolutionäre Kampf ist – dies bekanntlich die neueste Schrulle der französischen und italienischen »Syndikalisten«. Das Fatale für den Anarchismus war dabei stets, dß die in der blauen Luft improvisierten Kampfmethoden nicht bloß eine Rechnung ohne den Wirt, das heißt reine Utopien waren, sondern dß sie, weil sie eben mit der verachteten, schlechten Wirklichkeit gar nicht rechneten, in dieser schlechten Wirklichkeit meistens aus revolutionären Spekulationen unversehens zu praktischen Helferdiensten für die Reaktion wurden.
Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen aber heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die, wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein Verbot des »Propagierens« das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen, rein anarchistischen Vorstellung aus, dß der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen »beschlossen« oder auch »verboten« werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche »für alle Fälle« zusammengeklappt bereit halten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann. Zwar nehmen gerade die Gegner des Massenstreiks für sich das Verdienst in Anspruch, den geschichtlichen Boden und die materiellen Bedingungen der heutigen Situation in Deutschland in Betracht zu ziehen, im Gegensatz zu den »Revolutionsromantikern«, die in der Luft schweben und partout nicht mit der harten Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten rechnen wollen. »Tatsachen und Zahlen, Zahlen und Tatsachen!« rufen sie wie Mr. Gradgrind in Dickens' »Harte Zeiten«. Was die gewerkschaftlichen Gegner des Massenstreiks unter »geschichtlichem Boden« und »materiellen Bedingungen« verstehen, sind zweierlei Momente: einerseits die Schwäche des Proletariats, anderseits die Kraft des preußisch-deutschen Militarismus. Die ungenügenden Arbeiterorganisationen und Kassenbestände und die imponierenden preußischen Bajonette, das sind die »Tatsachen und Zahlen«, auf denen diese gewerkschaftlichen Führer ihre praktische Politik im gegebenen Falle basieren. Nun sind freilich gewerkschaftliche Kassen sowie preußische Bajonette zweifellos sehr materielle und auch sehr historische Erscheinungen, allein die darauf basierte Auffassung ist kein historischer Materialismus im Sinne von Marx, sondern ein polizeilicher Materialismus im Sinne Puttkamers. Auch die Vertreter des kapitalistischen Polizeistaats rechnen sehr, und zwar ausschließlich mit der jeweiligen tatsächlichen Macht des organisierten Proletariats, sowie mit der materiellen Macht der Bajonette, und aus dem vergleichenden Exempel dieser beiden Zahlenreihen wird noch immer der beruhigende Schluß gezogen: die revolutionäre Arbeiterbewegung wird von einzelnen Wühlern und Hetzern erzeugt, ergo haben wir in den Gefängnissen und den Bajonetten ein ausreichendes Mittel, um der unliebsamen »vorübergehenden Erscheinung« Herr zu werden.
Die klassenbewußte deutsche Arbeiterschaft hat längst das Humoristische der polizeilichen Theorie begriffen, als sei die ganze moderne Arbeiterbewegung ein künstliches, willkürliches Produkt einer handvoll gewissenloser »Wühler und Hetzer«.
Es ist aber genau dieselbe Auffassung, die darin zum Ausdruck kommt, wenn sich ein paar brave Genossen zu einer freiwilligen Nachtwächterkolonne zusammentun, um die deutsche Arbeiterschaft vor dem gefährlichen Treiben einiger »Revolutionsromantiker« und ihrer »Propaganda des Massenstreiks« zu warnen; oder wenn auf der anderen Seite eine larmoyante Entrüstungskampagne von denjenigen inszeniert wird, die sich durch irgendwelche »vertraulichen« Abmachungen des Parteivorstandes mit der Generalkommission der Gewerkschaften um den Ausbruch des Massenstreiks in Deutschland betrogen glauben. Käme es auf die zündende »Propaganda« der Revolutionsromantiker oder auf vertrauliche oder öffentliche Beschlüsse der Parteileitungen an, dann hätten wir bis jetzt in Rußland keinen einzigen ernsten Massenstreik. In keinem Lande dachte man – wie ich bereits im März 1905 in der »Sächs. Arbeiterzeitung« hervorgehoben habe – so wenig daran, den Massenstreik zu