Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg

Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band) - Rosa Luxemburg


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mögen wir ihn so weit zurückverfolgen, wie wir wollen. Wie die gesellschaftliche Arbeit kein Ende, so hat sie auch keinen Anfang. Die Anfänge der Grundlagen des Reproduktionsprozesses verlieren sich in jener sagenhaften Dämmerung der Kulturgeschichte, in der sich auch die Entstehungsgeschichte des Mörissees des Herodot verliert. Mit dem technischen Fortschritt und der Kulturentwicklung ändert sieh die Gestalt der Produktionsmittel, plumpe Paläolithen werden durch geschliffene Werkzeuge ersetzt, Steinwerkzeuge durch elegante Bronze- und Eisengeräte, Handwerkzeug durch Dampfmaschine. Aber bei all dem Wechsel in der Gestalt der Produktionsmittel und den gesellschaftlichen Formen des Produktionsprozesses besitzt die Gesellschaft als Grundlage ihres Arbeitsprozesses stets eine gewisse Menge vergegenständlichter vergangener Arbeit, die ihr als Basis für die jährliche Reproduktion dient.

      Bei der kapitalistischen Produktionsweise erhält die in den Produktionsmitteln aufgespeicherte vergangene Arbeit der Gesellschaft die Gestalt von Kapital, und die Frage nach der Herkunft der vergangenen Arbeit. welche die Grundlage des Reproduktionsprozesses bildet, verwandelt sich in die Frage nach der Genesis des Kapitals. Diese ist freilich viel weniger sagenhaft, vielmehr mit blutigen Lettern in die neuzeitliche Geschichte eingetragen als das Kapitel von der sogenannten ursprünglichen Akkumulation. Die Tatsache selbst aber, daß wir uns die einfache Reproduktion nicht anders als unter Voraussetzung vergangener aufgespeicherter Arbeit denken können, die an Umfang die jährlich zur Erhaltung der Gesellschaft geleistete Arbeit übertrifft, berührt die wunde Stelle der einfachen Reproduktion und beweist, daß sie nicht bloß für die kapitalistische Produktion, sondern für den Kulturfortschritt im allgemeinen bloß eine Fiktion ist. Um uns nur diese Fiktion selbst exakt - im Schema - vorzustellen, müssen wir als ihre Voraussetzung die Ergebnisse eines vergangenen Produktionsprozesses annehmen, der selbst unmöglich auf die einfache Reproduktion beschränkt, vielmehr bereits auf die erweiterte Reproduktion gerichtet war. Zur Erläuterung dieser Tatsache an einem Beispiel können wir das gesamte fixe Kapital der Gesellschaft mit einer Eisenbahn vergleichen. Die Dauerhaftigkeit und also auch der jährliche Verschleiß verschiedener Teile der Eisenbahn sind sehr verschieden. Solche Teile wie Viadukte, Tunnels können Jahrhunderte dauern, Lokomotiven Jahrzehnte, sonstiges rollendes Material wird sich in ganz kurzen Fristen. zum Teil in wenigen Monaten abnutzen. Es ergibt sich aber dabei ein gewisser durchschnittlicher Verschleiß, der, sagen wir, 30 Jahre ausmachen, also jährlich auf den Wertverlust von 1/30 des Ganzen hinauslaufen wird. Dieser Wertverlust wird nun fortlaufend wieder ersetzt durch teilweise Reproduktion der Eisenbahn (die als Reparaturen figurieren mag), indem heute ein Wagen, morgen ein Lokomotiventeil, übermorgen eine Strecke Gleise erneuert wird. Auf diese Weise wird nach Verlauf von 30 Jahren (bei unserer Annahme) die alte Eisenbahn durch eine neue ersetzt, wobei jahrein, jahraus dieselbe Arbeitsmenge von der Gesellschaft geleistet wird, also einfache Reproduktion stattfindet. Aber so kann eine Eisenbahn bloß reproduziert, so kann sie nicht produziert werden. Um sie in Gebrauch nehmen und ihren allmählichen Verschleiß durch den Gebrauch allmählich ersetzen zu können, muß die Eisenbahn erst einmal ganz fertiggestellt werden. Man kann die Eisenbahn stückweise reparieren, man kann sie aber nicht stückweise - heute eine Achse, morgen einen Wagen - gebrauchsfähig machen. Denn dies charakterisiert gerade das fixe Kapital, daß es sachlich, als Gebrauchswert, jederzeit in seiner Totalität in den Arbeitsprozeß eingeht. Um seine Gebrauchsgestalt also einmal erst fertigzustellen, muß die Gesellschaft auf einmal eine größere Arbeitsmenge auf seine Herstellung konzentrieren. Sie muß - um in den Zahlen unseres Beispiels zu sprechen - zur Herstellung der Eisenbahn ihre dreißigjährige, auf die Reparaturen verwendete Arbeitsmenge, sagen wir, auf zwei oder drei Jahre konzentrieren. In dieser Herstellungsperiode muß sie demnach eine über den Durchschnitt hinausgehende Arbeitsmenge leisten, also zur erweiterten Reproduktion greifen, worauf sie - nach Fertigstellung der Eisenbahn - zur einfachen Reproduktion zurückkehren mag. Freilich darf man sich dabei das jeweilige gesamte fixe Kapital der Gesellschaft nicht als einen zusammenhängenden Gebrauchsgegenstand oder Komplex von Gegenständen vorstellen, der immer auf einmal geschaffen werden müsse. Aber alle wichtigeren Arbeitsinstrumente, Gebäude, Verkehrsmittel, landwirtschaftlichen Konstruktionen bedürfen zu ihrer Herstellung einer größeren konzentrierten Arbeitsausgabe, was so gut auf die moderne Eisenbahn und das Luftschiff wie auf das ungeschliffene Stein und die Handmühle zutrifft. Daraus folgt, daß die einfache Reproduktion an sich nur in periodischer Abwechslung mit erweiterter Reproduktion gedacht werden kann, was nicht bloß durch den Kulturfortschritt und das Wachstum der Bevölkerung im allgemeinen, sondern durch die ökonomische Form des fixen Kapitals oder der Produktionsmittel bedingt ist, die in jeder Gesellschaft dem fixen Kapital entsprechen.

      In einem ganz anderen Zusammenhang bestätigt Marx indirekt, wie es uns scheint, vollkommen die oben ausgesprochene Auffassung. Bei der Analyse der Verwandlung von Revenue in Kapital im Band II, Teil 2 der "Theorien über den Mehrwert" bespricht er die eigentümliche Reproduktion des fixen Kapitals, dessen Ersatz an sich schon einen Akkumulationsfonds liefere, und zieht die folgenden Schlüsse:

      "Aber worauf wir hier kommen wollen, ist folgendes. Wäre das in dem Maschinenbau angewandte Gesamtkapital auch nur groß genug, um den jährlichen déchet der Maschinerie zu ersetzen, so würde es viel mehr Maschinerie produzieren als jährlich bedurft wird, da der déchet zum Teil nur idealiter existiert und realiter erst nach einer gewissen Reihe von Jahren in natura zu ersetzen ist. Das so angewandte Kapital liefert jährlich eine Masse Maschinerie, die für neue Kapitalanlagen vorhanden ist und diese neuen Kapitalanlagen antizipiert. Z.B. während dieses Jahrs beginnt der Maschinenbauer seine Fabrik. Er liefere für 12.000 l. Maschinerie während des Jahrs. So hätte er während der 11 folgenden Jahre bei bloßer Reproduktion der von ihm produzierten Maschinerie nur für 1.000 1. zu produzieren, und selbst diese jährliche Produktion würde nicht jährlich konsumiert. Noch weniger, wenn er sein ganzes Kapital anwendet. Damit dies in Gange bleibe und sich bloß fortwährend jährlich reproduziere, ist neue fortwährende Erweiterung der Fabrikation, die diese Maschinen braucht, nötig. (Noch mehr wenn er selbst akkumuliert.)

      Der Maschinenbauer des Marxschen Beispiels können wir uns als die Produktionssphäre des fixen Kapitals der Gesamtgesellschaft denken. Dann folgt daraus, daß bei Erhaltung der einfachen Reproduktion in dieser Sphäre, d.h. wenn die Gesellschaft jährlich dasselbe Quantum Arbeit auf die Herstellung des fixen Kapitals verwendet (was ja praktisch ausgeschlossen), sie in den übrigen Produktionssphären jedes Jahr eine Erweiterung der Produktion vornehmen muß. Hält sie aber hier nur die einfache Reproduktion ein, dann muß sie zur bloßen Erneuerung des einmal geschaffenen fixen Kapitals nur einen geringen Teil der zu seiner Schaffung angewandten Arbeit verausgaben. Oder - um die Sache umgekehrt zu formulieren - die Gesellschaft muß von Zeit zu Zeit, um sich große Anlagen fixen Kapitals zu schaffen, auch unter Voraussetzung der einfachen Reproduktion im ganzen periodisch erweiterte Reproduktion anwenden.

      Mit dem Kulturfortschritt wechselt nicht bloß die Gestalt, sondern auch der Wertumfang der Produktionsmittel - richtiger: die in ihnen aufgespeicherte gesellschaftliche Arbeit. Die Gesellschaft erübrigt außer der zu ihrer unmittelbaren Erhaltung notwendigen Arbeit immer mehr Arbeitszeit und Arbeitskräfte, die sie zur Herstellung von Produktionsmitteln in immer größerem Umfang verwendet. Wie kommt dies nun im Reproduktionsprozeß zum Ausdruck? Wie schafft die Gesellschaft - kapitalistisch gesprochen - aus ihrer jährlichen Arbeit mehr Kapital, als sie ehedem besaß? Diese Frage greift in die erweiterte Reproduktion


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