Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
wie der große Abstand sofort in die Äugen. Die beiden Schemata, die die Entwicklungsstrecke der klassischen Nationalökonomie flankieren, sind die beiden einzigen Versuche der exakten Darstellung des scheinbaren Chaos, das die Gesamtbewegung der kapitalistischen Produktion und Konsumtion in ihre gegenseitigen Verschlingung und ihrem Auseinanderfallen zahlloser Privatproduzenten und Konsumenten darstellt. Beide reduzieren das wirre Durcheinander in der Bewegung der Einzelkapitale auf einige einfache Zusammenhänge, in denen die Möglichkeit der Existenz und der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft trotz ihres ungeregelten anarchischen Getriebes verankert ist. Beide vereinigen nämlich den doppelten Gesichtspunkt, welcher der Gesamtbewegung des gesellschaftlichen Kapitals zugrunde liegt: daß sie zugleich als Kapitalbewegung eine Produktion und Aneignung von Mehrwert und als gesellschaftliche Bewegung Produktion und Konsumtion von sachlichen Notwendigkeiten der menschlichen Kulturexistenz ist. In beiden vermittelt die Zirkulation der Produkte als Warenzirkulation den Gesamtprozeß, und in beiden folgt die Bewegung des Geldes nur als äußerer Ausdruck an der Oberfläche der Bewegung der Warenzirkulation.
In der Ausführung dieser großen Grundlinien liegt aber ein tiefer Abstand. Das Quesnaysche "Tableau" macht zwar die Mehrwertproduktion zu einem Angelpunkt der Gesamtreproduktion, faßt aber den Mehrwert noch unter der naiven feudalen Form der Grundrente auf, versieht also eine Teilform für das Ganze.
Es macht ebenso die sachliche Unterscheidung in der Masse des Gesamtprodukts zum anderen Angelpunkt der gesellschaftlichen Reproduktion, faßt sie aber unter dem naiven Gegensatz zwischen landwirtschaftlichen und manufakturmäßigen Produkten auf, versieht also äußere Unterschiede in den Stoffen, mit denen der arbeitende Mensch zu tun hat, für grundlegende Kategorien des menschlichen Arbeitsprozesses überhaupt.
Bei Marx ist die Mehrwertproduktion in ihrer reinen und allgemeinen, also absoluten Form der Kapitalproduktion aufgefaßt. Zugleich sind die ewigen sachlichen Bedingungen der Produktion in der grundlegenden Unterscheidung von Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln berücksichtigt und das Verhältnis beider auf ein exaktes Wertverhältnis zurückgeführt.
Fragt man, warum die von Quesnay so glücklich angeschnittene Lösung des Problems bei der späteren bürgerlichen Nationalökonomie scheiterte und was zu dem gewaltigen Sprung, den die Analyse mit dem Marxschen Schema macht, erforderlich war, so ergeben sich hauptsächlich zwei Vorbedingungen. Vor allem fußt das Marxsche Reproduktionsschema auf der klaren und scharfen Unterscheidung der beiden Seiten der Arbeit in der Warenproduktion: der konkreten nützlichen Arbeit, die bestimmte Gebrauchswerte schafft, und der abstrakten allgemeinmenschlichen Arbeit, die als gesellschaftlich notwendige Werte schafft. Dieser geniale Grundgedanke der Marxschen Werttheorie, der ihm u.a. die Lösung des Geldproblems ermöglicht hat, führte ihn auch zu der Auseinanderhaltung und zur Vereinigung der beiden Gesichtspunkte im Gesamtreproduktionsprozeß: der Wertstandpunkte und der sachlichen Zusammenhänge. Zweitens liegt dem Schema die scharfe Unterscheidung von konstantem und variablem Kapital zugrunde, bei der erst die Mehrwertproduktion in ihrem inneren Mechanismus aufgedeckt und als Wertverhältnis mit den beiden sachlichen Kategorien der Produktion: Produktionsmittel und Konsumtionsmittel, in ein exaktes Verhältnis gebracht werden konnte.
An alle diese Standpunkte stieß die klassische Ökonomie nach Quesnay, namentlich bei Smith und Ricardo, annähernd. Bei Ricardo erhielt die Werttheorie jene strenge Fassung, die es macht, daß man sie häufig sogar mit der Marxsehen verwechselt. Vom Standpunkte seiner Werttheorie hat Ricardo auch die Smithsche Auflösung des Preises aller Waren in v + m, die soviel Unheil in der Analyse der Reproduktion angerichtet hat, als falsch eingesehen; doch kümmerte er sich um diesen Smithschen Schnitzer nicht weiter, wie er sich für das Problem der Gesamtreproduktion im ganzen nicht erwärmte. Überhaupt brachte die Ricardosche Analyse in gewisser Hinsicht einen Rückschritt hinter Smith, wie dieser zum Teil einen Rückschritt hinter die Physiokraten machte. Wenn Ricardo die Grundkategorien der bürgerlichen Ökonomie: Wert, Lohn, Mehrwert, Kapital, viel schärfer und einheitlicher herausgearbeitet hat als alle seine Vorgänger, so hat er sie dafür starrer behandelt. Ad. Smith hatte viel mehr Sinn für die lebendigen Zusammenhänge, für die große Bewegung des Ganzen. Kam es ihm auch gelegentlich nicht darauf an, für ein und dasselbe Problem zwei oder, wie bei dem Wertproblem, gar drei bis vier verschiedene Lösungen zu geben und sich in verschiedenen Teilen der Analyse selbst munter zu widersprechen, so führten doch gerade seine Widersprüche darauf, das Ganze immer wieder von anderer Seite anzupacken und in der Bewegung zu fassen. Die Schranke, an der beide - Smith wie Ricardo - scheitern mußten, war ihr bürgerlich begrenzter Horizont. Um die Grundkategorien der kapitalistischen Produktion: Wert und Mehrwert, in ihrer lebendigen Bewegung, als gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß zu erfassen, mußte man diese Bewegung historisch, die Kategorien selbst als geschichtlich bedingte Formen allgemeiner Arbeitsverhältnisse auffassen. Damit ist gegeben, daß das Problem der Reproduktion des Gesamtkapitals nur von einem Sozialisten gelöst werden konnte. Zwischen dem "Tableau économique" und dem Reproduktionsschema im zweiten Band des "Kapitals" liegt nicht bloß zeitlich, sondern auch inhaltlich das Glück und Ende der bürgerlichen Ökonomie.
Sechstes Kapitel.
Die erweiterte Reproduktion
Das Mangelhafte des Schemas der einfachen Reproduktion liegt auf der Hand: Es legt die Gesetze einer Reproduktionsform dar, die unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen nur als gelegentliche Ausnahme stattfinden kann. Die Regel der kapitalistischen Wirtschaftsweise noch mehr als jeder anderen ist nicht einfache, sondern erweiterte Reproduktion.33 Trotzdem hat das Schema seine volle wissenschaftliche Bedeutung. Dies in zwiefacher Hinsicht. Praktisch fällt auch bei erweiterter Reproduktion stets der allergrößte Teil des Gesamtprodukts unter die Gesichtspunkte der einfachen Reproduktion. Letztere bildet die breite Basis, auf der jeweilig die Ausdehnung der Produktion über die bisherigen Schranken hinaus stattfindet. Theoretisch bildet ebenso die Analyse der einfachen Reproduktion den unumgänglichen Ausgangspunkt jeder exakten wissenschaftlichen Darstellung der erweiterten Reproduktion. Das Schema der einfachen Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals führt somit von selbst über sich hinaus: zum Problem der erweiterten Reproduktion des Gesamtkapitals.
Wir kennen schon die historische Eigentümlichkeit der erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer Basis: Sie muß sich darstellen als Kapitalakkumulation, dies ihre spezifische Form und Bedingung zugleich. Das heißt, die gesellschaftliche Gesamtproduktion - die auf kapitalistischer Basis eine Produktion von Mehrwert ist - kann nur in dem Sinne und in dem Maße jeweilig erweitert werden, wie das bisherige tätige Kapital der Gesellschaft einen Zuwachs aus dem von ihm produzierten Mehrwert erhält. Die Verwendung eines Teils des Mehrwerts - und zwar eines wachsenden Teils - zu produktiven Zwecken statt zur persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse oder zur Aufschatzung - dies ist die Basis der erweiterten Reproduktion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen.
Element der erweiterten Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals ist - genau wie bei der früher vorausgesetzten einfachen - die Reproduktion des Einzelkapitals. Geht doch die Gesamtproduktion - ob sie als einfache oder als erweiterte betrachtet wird - tatsächlich nur unter der Form von zahllosen selbständigen Reproduktionsbewegungen privater Einzelkapitale vor sich. Die erste erschöpfende Analyse der Akkumulation des Einzelkapitals ist gegeben im Band I des Marxschen "Kapitals", siebenter Abschnitt, Kapitel 22 und 23. Hier behandelt Marx die Teilung des Mehrwerts in Kapital und Einkommen, die Umstände, die unabhängig von der Teilung des Mehrwerts in Kapital und Revenue die Akkumulation des Kapitals bestimmen, wie Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft und Produktivität der Arbeit, ferner das Wachstum des fixen Kapitals im Verhältnis zum zirkulierenden als Moment der Akkumulation, endlich die fortschreitende Bildung der industriellen Reservearmee zugleich als Folge und Voraussetzung des Akkumulationsprozesses. Unterwegs setzt sich Marx hier mit zwei Einfällen der bürgerlichen Ökonomie in bezug auf die Akkumulation auseinander: mit der mehr vulgärökonomischen "Abstinenztheorie", welche die Teilung des Mehrwerts in Kapital und Einkommen und somit die Akkumulation selbst für eine ethische Heldentat der Kapitalisten ausgibt, und mit dem Irrtum der