Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
paradoxen und rohen, aber revolutionär klingenden Satz Brissots ausgesponnen: Eigentum ist Diebstahl. Rodbertus beweist, daß das Kapital ein Diebstahl am Eigentum sei. Man vergleiche damit im ersten Bande des Marxschen "Kapitals" das Kapitel über den Umschlag der Eigentumsgesetze in Gesetze der kapitalistischen Aneignung, das ein Meisterstück historischer Dialektik bietet, und man wird wieder einmal die "Priorität" Rodbertus' konstatieren können. Jedenfalls hat sich Rodbertus durch seine Deklamationen gegen die kapitalistische Aneignung vom Standpunkte des "Eigentumrecht" das Verständnis für die Entstehung des Mehrwerts aus Kapital ebenso versperrt, wie er sich früher durch seine Deklamationen gegen das "Sparen" das Verständnis für die Entstehung des Kapitals aus Mehrwert versperrt hatte. So gehen Rodbertus alle Voraussetzungen für das Begreifen der kapitalistischen Akkumulation ab, und er bringt es fertig, darin sogar vor v. Kirchmann den kürzeren zu ziehen.
Summa: Rodbertus will unumschränkte Erweiterung der Produktion, aber ohne alles "Sparen", d.h. ohne kapitalistische Akkumulation! Er will unumschränkte Steigerung der Produktivkräfte - aber eine feste Mehrwertrate durch Staatsgesetz! Mit einem Wort, er zeigt völlige Verständnislosigkeit für die eigentlichen Grundlagen der kapitalistischen Produktion, die er reformieren will, wie für die wichtigsten Ergebnisse der klassischen Nationalökonomie, gegen die er kritisch zu Felde zieht.
Deshalb sagt Professor Diehl natürlich, Rodbertus habe in der theoretischen Nationalökonomie durch seine "neue Einkommenstheorie" und durch die Unterscheidung der logischen und historischen Kategorien des Kapital (jenes bewußte "Kapital an sich" im Gegensatz zum Einzelkapital) bahnbrechend gewirkt. Und deshalb nennt ihn natürlich Professor Adolph Wagner "den Ricardo des ökonomischen Sozialismus", um so die eigene Unschuld in bezug auf Ricardo, Rodbertus wie den Sozialismus mit einem Schlage zu dokumentieren. Lexis aber findet gar, daß Rodbertus "seinem britischen Rivalen" an Kraft des abstrakten Denkens mindestens gleichkäme; ihn aber in der "Virtuosität der Aufdeckung des tiefsten Zusammenhanges der Erscheinungen", in der "Lebendigkeit der Phantasie" und vor allem - in seinem "ethischen Standpunkt gegenüber dem Wirtschaftsleben" weitaus überträfe. Das hingegen, was Rodbertus wirklich in der theoretischen Ökonomie außer seiner Kritik der Grundrente von Ricardo geleistet hat: seine stellenweise ganz klare Unterscheidung von Mehrwert und Profit, seine Behandlung des Mehrwerts als Ganzes im bewußten Unterschied von dessen Teilerscheinungen, seine teilweise vortreffliche Kritik des Smithschen Dogmas über die Wertzusammensetzung der Waren, seine scharfe Formulierung der Periodizität der Krisen und die Analyse ihrer Erscheinungsformen - wertvolle Ansätze, um die Analyse über Smith-Ricardo hinauszuführen, die freilich an der Konfusion in den Grundbegriffen scheitern mußte -, das alles sind den offiziellen Bewunderern Rodbertus' meistens böhmische Dörfer. Franz Mehring hat schon auf das merkwürdige Los Rodbertus' hingewiesen, für seine angeblichen nationalökonomischen Großtaten in den Himmel gehoben, wegen seiner wirklichen politischen Verdienste hingegen von denselben Leuten "wie ein dumme Junge" behandelt zu werden. In unserem Fall handelt es sich aber nicht einmal um den Gegensatz seiner ökonomischen und politischen Leistungen: Auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie selbst haben ihm seine Lobhudler ein großes Denkmal auf dem Sandfelde errichtet, wo er mit dem hoffnungslosen Eifer eines Utopisten grub, während sie zugleich die paar bescheidenen Beete mit Unkraut haben überwuchern und in Vergessenheit geraten lassen, in denen er einige fruchtbare Setzlinge hinterlassen hatte.137
Im ganzen kann man nicht behaupten, daß das Problem der Akkumulation seit der ersten Kontroverse, in preußisch-pommerscher Behandlung, vorwärtsgekommen wäre. Wenn die ökonomische Harmonielehre inzwischen von der Höhe Ricardos auf Bastiat-Schulze heruntergekommen war, so hat auch die soziale Kritik dementsprechend den Abrutsch von Sismondi auf Rodbertus vollzogen. Und wenn die Kritik Sismondis im Jahre 1819 eine geschichtliche Tat war, so waren die Reformideen Rodbertus' schon bei ihrem ersten Auftreten, zumal aber in seinen späteren Wiederholungen ein kläglicher Rückschritt.
In der Polemik zwischen Sismondi und Say-Ricardo bewies die eine Seite die Unmöglichkeit der Akkumulation infolge der Krisen und warnte vor der Entfaltung der Produktivkräfte. Die andere Seite bewies die Unmöglichkeit der Krisen und befürwortete die schrankenlose Entfaltung der Akkumulation. Jede war trotz der Verkehrtheit des Ausgangspunkts in ihrer Art konsequent. v. Kirchmann und Rodbertus gehen beide, wie auch nicht anders möglich war, von der Tatsache der Krisen aus. Trotzdem aber jetzt, nach der geschichtlichen Erfahrung eines halben Jahrhunderts, die Krisen sich gerade durch ihre Periodizität nur als Bewegungsform der kapitalistischen Reproduktion deutlich erwiesen hatten, wurde auch hier das Problem der erweiterten Reproduktion des Gesamtkapitals, der Akkumulation, mit dem Problem der Krisen völlig identifiziert und dadurch auf das tote Gleis des Suchens nach einem Mittel gegen Krisen geschoben. Die eine Seite sieht dabei das Mittel in dem restlosen Verzehren des Mehrwerts durch die Kapitalisten, d.h. im Verzicht auf die Akkumulation, die andere - in einer gesetzlichen Fixierung der Mehrwertrate, d.h. gleichfalls im Verzicht auf die Akkumulation. Die Spezialschrulle Rodbertus' beruht hierbei darauf, daß er ohne kapitalistische Akkumulation eine schrankenlose kapitalistische Steigerung der Produktivkräfte und des Reichtums erhofft und befürwortet. Zu einer Zeit, wo der hohe Reifegrad der kapitalistischen Produktion bald ihre grundlegende Analyse durch Marx ermöglichen sollte, artete der letzte Versuch der bürgerlichen Ökonomie, allein mit dem Problem der Reproduktion fertig zu werden, in eine abgeschmackte kindische Utopie aus.
Dritter Waffengang.
Struve - Bulgakow - Tugan-Baranowski gegen Woronzow - Nikolai-on
Achtzehntes Kapitel.
Das Problem in neuer Auflage
In einem ganz anderen historischen Rahmen als die beiden ersten spielte sich die dritte Kontroverse um die Frage der kapitalistischen Akkumulation ab. Diesmal war die Zeit der Handlung der Anfang der 80er Jahre bis um die Mitte der 90er und ihr Schauplatz Rußland. Die kapitalistische Entwicklung hatte bereits in Westeuropa ihren Reifegrad erreicht. Die einstige rosige Auffassung der Klassiker Smith-Ricardo mitten in der in Knospen stehenden bürgerlichen Gesellschaft war längst zerronnen. Auch der interessierte Optimismus der vulgär-manchesterlichen Harmonielehre war unter dem niederschmetternden Eindruck des Weltkrachs der 70er Jahre sowie unter den wuchtigen Schlägen des seit den 60er Jahren in allen kapitalistischen Ländern entbrannten heftigen Klassenkampfes verstummt. Selbst von den sozialreformerisch geflickten Harmonien, die sich namentlich in Deutschland noch Anfang der 80er Jahre breitgemacht hatten, war sehr bald nur der Katzenjammer geblieben, die 12jährige Prüfungszeit des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie hatte eine grausame Ernüchterung gebracht, alle Harmonieschleier endgültig zerrissen und die nackte Wirklichkeit der kapitalistischen Gegensätze in ihrer ganzen Schroffheit enthüllt. Optimismus war seitdem nur noch im Lager der aufstrebenden Arbeiterklasse und ihrer theoretischen Wortführer möglich. Ein Optimismus freilich nicht in bezug auf das natürliche oder künstlich hergestellte innere Gleichgewicht der kapitalistischen Wirtschaft und ihre ewige Dauer, sondern in dem Sinne, daß die von ihr mächtig geförderte Entfaltung der Produktivkräfte gerade durch ihre inneren Widersprüche einen ausgezeichneten historischen Boden für die fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft zu neuen ökonomischen und sozialen Formen biete. Die negative, herabdrückende Tendenz der ersten Periode des Kapitalismus, die einst Sismondi allein vor den Augen hatte und die noch Rodbertus in den 40er und 50er Jahren sah, war jetzt aufgewogen durch die emporhebende Tendenz: das hoffnungsvolle und siegreiche Aufstreben der Arbeiterklasse in ihrer gewerkschaftlichen und politischen Aktion.
So war das Milieu in Westeuropa beschaffen. Anders sah es freilich um dieselbe Zeit in Rußland aus. Hier stellen die siebziger und achtziger Jahre in jeder Hinsicht eine Übergangszeit, eine Periode der inneren Krise mit all ihren Qualen dar. Die Großindustrie feierte erst eigentlich ihren Einzug unter der Einwirkung der hochschutzzöllnerischen Periode. In der nun einsetzenden forcierten Förderung des Kapitalismus durch die absolutistische