1870/71. Tobias Arand

1870/71 - Tobias Arand


Скачать книгу
die von Émile Zola im Roman ›Nana‹ beschriebenen Kurtisanen diskutieren am Sterbebett der Protagonistin die Folgen der Einberufungen auf beiden Seiten. Für die Damen sind die guten Geschäfte vorbei: »Blanche de Sivry ereiferte sich: ›Sprich bloß nicht schlecht von den Preußen! … Das sind Menschen wie alle anderen, wie deine Franzosen auch! … Eben hat man den kleinen Preußen ausgewiesen, mit dem ich zusammen war, ein reiches, nettes Kerlchen, das keinem was zuleide tun konnte. Das ist eine Gemeinheit, ich bin ruiniert!‹«11

      Einen besonders weiten Weg zurück in die Heimat hat Maurice d’Irisson, Comte d’Hérisson. Im Auftrag des französischen Handelsministeriums befindet sich der dreißigjährige Graf, der in der Mitte gescheiteltes Haar und einen zu beiden Seiten ausladenden, pomadisierten Schnauzbart trägt, in Washington D. C. Dort erreichen ihn die Kriegsnachrichten. Bald nach Verkündung der offiziellen Kriegserklärung schifft sich Hérisson am 27. Juli von New York mit dem schnellsten Schiff der Cunard-Line, dem Segeldampfer ›Scotia‹, über Cork in Irland nach Frankreich ein. Er ist Reserveoffizier der Mobilgarde und zögert keinen Augenblick, seinem Vaterland zur Seite zu stehen. In New York wird der Comte Zeuge deutschfreundlicher Demonstrationen, ist doch in den Vereinigten Staaten von Amerika Frankreichs mexikanisches Abenteuer weder vergessen noch vergeben. Dazu kommt, dass viele Amerikaner deutsche Wurzeln haben. Auch viele Deutsche eilen von Amerika aus zu den Fahnen, wie der wenig erfreute Graf auf dem Schiff feststellen muss: »In den Schenken, den Straßen, auf den Märkten und in den Handelshäusern, überall zeigten sich Kundgebungen für Deutschland. Man mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht die Fäuste zu ballen, und ich entsinne mich, daß ich die letzten Augenblicke vor meiner Abreise von den Vereinigten Staaten in wüthender Erbitterung einsam in meiner Kabine zubrachte. Ach, auf dem Dampfboote fand ich leider ganz dieselben Gesinnungen wieder! Alle Plätze waren überfüllt von den Deutschen, die sich zum Dienst stellen wollten. Es prickelte mich ordentlich, ganz auf eigene Faust die Feindseligkeiten zu beginnen […].«12 Trösten kann sich der erzürnte Edelmann immerhin mit der unterhaltsamen Reisegesellschaft eines berühmten, wenngleich wenig erfolgreichen Nordstaaten-Generals des amerikanischen Bürgerkriegs. Ambrose Burnside, der Verlierer der Schlacht von Fredericksburg 1862, reist mit Hérisson, um im bevorstehenden Feldzug militärische Studien zu unternehmen. Außerdem soll Burnside mit Segen des amerikanischen Präsidenten Ulysses Grant zwischen den kommenden Kriegsparteien vermitteln. Doch nicht alle Franzosen eilen so bereitwillig wie der schneidige Comte d’Hérisson zu den Waffen. Weil es auf der französischen Seite keinen genauen Eisenbahnplan für die Mobilmachung gibt, dauern die Vorbereitungen dort wesentlich länger als auf der deutschen Seite. Die Züge sind häufig nur zu 60 Prozent ausgelastet, weil viele Reservistengruppen keinen eindeutigen Gestellungsbefehl erhalten haben. Manche der Einberufenen können ihre Stammtruppenteile nicht erreichen. Tausende Reservisten treffen erst bei ihren Regimentern ein, als die großen Grenzschlachten des Augusts schon geschlagen sind. Bei Kriegsbeginn hat Frankreich aber immerhin etwa 350 000 Mann an den Grenzen zu den deutschen Ländern stehen.

      »Eisen und Blut« – Die Vorgeschichte des Krieges

      Was ist eigentlich passiert, dass es im Sommer 1870 zu den dramatischen Ereignissen kommen musste, die all diese Menschen in Bewegung setzen und dann als der ›Deutsch-Französische Krieg‹ oder ›70/71er-Krieg‹ bekannt werden sollten? Schauen wir zuerst auf die sehr spezifische deutsche Entwicklung einer ›verspäteten Nation‹:

      Im September 1862 wird Otto von Bismarck – ein als etwas hinterwäldlerisch-ruppig geltender, stockkonservativer, 47 Jahre alter Junker – preußischer Ministerpräsident. Innerhalb von neun Jahren wird er Preußen in das Deutsche Reich überführen und die von vielen sehnsüchtig erwartete Einheit vollziehen. Allerdings wird es sich dabei nur um eine ›kleindeutsche‹ Einheit handeln und werden die Widerstände und Unvorhersehbarkeiten enorm sein. Der äußere Rahmen, in dem sich dieser Prozess ereignet, ist zunächst der ›Deutsche Bund‹. Im Unterschied zu manch anderer Nation in Europa, zum Beispiel Frankreich, war es den Deutschen bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht gelungen, eine staatliche Einheit unter zentraler Regierung und mit gemeinsamer Identität zu bilden. Seit dem 10. Jahrhundert lebten die ›Deutschen‹ in einem sprachlich, kulturell und ethnisch sehr heterogenen Kaiserreich, das weit über die Grenzen des heutigen Deutschland hinausgriff. Der heute noch bekannte Name ›Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation‹ für dieses komplexe Gebilde war ab dem Spätmittelalter gebräuchlich. Dieses Reich war ein Sammelsurium aus Kleinststaaten, Ritterschaften, Abteien, Königreichen, Herzogtümern, Fürstbistümern, Freien Reichsstädten, Grafschaften, das nur lose von einem in den letzten Jahrhunderten meist aus dem österreichischen Hause Habsburg stammenden Kaiser und dem Reichstag zusammengehalten wurde. Unter dem Druck der Französischen Revolution und der nachfolgenden Napoleonischen Kriege löste sich dieses Reich nach fast 900 Jahren seiner Existenz im Jahre 1806 auf. Vorausgegangen war die Gründung des Rheinbundes, in dem sich alle deutschen Staaten außer Preußen und Österreich zusammengefunden hatten. Die Rheinbundstaaten waren von Napoleon I. abhängige ›Satellitenstaaten‹. Die Gründung des Rheinbundes war für den letzten Kaiser des Reichs, den Habsburger Franz II., der Anlass, die Kaiserkrone niederzulegen und das Reich als aufgelöst zu betrachten. Franz II. wollte künftig lieber als Kaiser von Österreich herrschen.

      Mit der Französischen Revolution des Jahres 1789 war eine neue Idee in die Welt gekommen: die Idee der Nation als Summe aller Bürger einer Sprache, einer Geschichte und einer Kultur, vereint in der Vorstellung einer vaterländischen Gemeinschaft, repräsentiert durch Fahne und Wappen. Nun war der Mensch nicht mehr rechtloser und passiver Untertan eines Fürsten, nun war er Teil einer Gemeinschaft, der er sich verpflichtet fühlen, der er dienen sollte. Mit dieser Idee der Nation wurde zugleich die Idee der allgemeinen Wehrpflicht geboren. Der absolutistische Fürst musste auf bezahlte Söldner zurückgreifen, denen die Interessen ihrer Auftraggeber gleichgültig sein konnten. Der ›Citoyen‹ als Teil der Nation hingegen sollte es als seine Pflicht verstehen, die Nation und damit ebenso sich selbst mit dem Leben zu verteidigen. Es waren erst diese seit der ›Levée en masse‹ 1793 aus Wehrpflichtigen zusammengestellten französischen Revolutionsarmeen, dann die Truppen Napoleons, welche die wirkmächtige Idee der Nation auch ins Ausland trugen. Zuerst wehrten sich die Truppen der Revolution nur gegen die Angriffe der Frankreich umgebenden Monarchien und verteidigten ihre Errungenschaften. Dann trugen sie den Krieg jedoch als ›Revolutionsexport‹ über ihre Grenzen hinaus. Was aber als revolutionärer Aufbruch zu ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ begonnen hatte, wurde unter der Macht Napoleon Bonapartes und seiner fast ganz Europa kontrollierenden Soldaten zu Unterdrückung und Ausbeutung. In dieser verzweifelten Atmosphäre wendeten die unterdrückten Völker die Idee der Nation gegen ihre Erfinder. Sie ›erfanden‹ sich als Nationen in der Abgrenzung und im Kampf gegen Napoleon. Auch im deutschen Sprachraum schufen Literaten, Philosophen, Musiker, Historiker im Dienst der nationalen Selbstdefinition patriotische Gedichte, Bilder, Gedankenwelten, Dramen. So pflanzten sie trotz Angst vor Verfolgung, Gefängnis oder Tod vor allem den Kreisen des ›Bildungsbürgertums‹ die Idee einer deutschen Nation als Voraussetzung für Freiheit und nationale Erfüllung ein. Als Preußen im Jahr 1813, nach Napoleons verheerendem Russlandfeldzug und gestärkt durch einige tief greifende innere Reformen, endlich den Freiheitskrieg gegen den Kaiser wagte, zogen Zehntausende junger Männer freudig gegen Napoleon und seine Verbündeten in den Kampf. Viele gingen freiwillig in den Krieg, doch die meisten folgten aufgrund der kurz zuvor in Preußen eingeführten allgemeinen Wehrpflicht, in der von nicht wenigen Deutschen ein egalitär-demokratisches Element gesehen wurde.

      Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft, das 1815 in einer großen Schlacht beim heute belgischen Örtchen Waterloo besiegelt wurde, musste Europa neu geordnet werden. Diese Neuordnung sollte auf dem Wiener Kongress geschehen, bei dem sich die Siegermächte in langen Verhandlungen auch über die Frage einigen mussten, was künftig mit den deutschen Staaten geschehen sollte. Vage Andeutungen von Verfassung, Freiheit oder staatlicher deutscher Einheit, wie sie der preußische König Friedrich Wilhelm III. seinen Untertanen bei Beginn der Freiheitskriege gegen Napoleon 1813 gemacht hatte, waren nun plötzlich kein Thema mehr. Statt eines einheitlichen Verfassungsstaates mit Bürgerrechten


Скачать книгу