1870/71. Tobias Arand

1870/71 - Tobias Arand


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freier Einzelstaaten dar. Insgesamt umfasste der ›Deutsche Bund‹ 41 Staaten. Die vielen Klein- und Kleinststaaten sowie die zahlreichen geistlichen Territorien, die noch im ›Alten Reich‹ existiert hatten, waren bereits 1803 im sogenannten ›Reichsdeputationshauptschluß‹ zerschlagen und den größeren Mächten unterworfen worden. Führende Länder des Deutschen Bundes waren Österreich und Preußen, die sich jedoch seit den gegeneinander geführten Kriegen des 18. Jahrhunderts als Konkurrenten betrachteten. In ihrer Bedeutung am nächsten kamen diesen noch die Königreiche Bayern, Württemberg, Hannover und Sachsen. Die Großherzogtümer Baden, Oldenburg und Mecklenburg galten dagegen schon als Staaten zweiter Ordnung. Weiterhin musste ein Deutscher, der von Süd nach Nord reiste, zahlreiche Zollschranken und Grenzzäune überwinden.

      Als gemeinsame Organe besaß der ›Deutsche Bund‹ die ständig tagende Bundesversammlung und als Teil der Bundesversammlung den Bundesrat, auf dem die wichtigen Beschlüsse gefasst wurden. Vorsitzender des Bundesrats war Österreich. Im Kriegsfall konnte ein gemeinsames Bundesheer einberufen werden, das sich aus Kontingenten der Bundesstaaten zusammensetzte. In ihren Staaten regierten die meisten deutschen Fürsten im ›Deutschen Bund‹ autokratisch und unter weitgehender Missachtung der ihre Rechte einfordernden Bürger. Die Meinungsfreiheit wurde unterdrückt. Ausnahmen wie das Großherzogtum Baden, das sich schon 1818 eine verhältnismäßig liberale Verfassung gab, bestätigten nur die Regel. Man tat einfach so, als habe es die Französische Revolution und die mit ihr in die Welt gekommenen Ideen des Nationalstaats, der Freiheit und der bürgerlichen Grundrechte nie gegeben. Gegen diese Missstände opponierten besonders Studenten, die in den Kriegen gegen Napoleon besonders begeistert dem Ruf des Königs gefolgt waren und für die nationale Sache zu kämpfen geglaubt hatten. 1817 protestierten sie unter Führung der Jenaer Urburschenschaft auf der Wartburg gegen Reaktion und Unterdrückung. Im Jahr 1832 wurden beim ›Hambacher Fest‹ bereits schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt. ›Schwarz–Rot–Gold‹, hervorgegangen aus den Farben des Lützow’schen Freikorps, dem in den Jahren 1813 und 1814 zahlreiche idealistische Handwerker und Studenten freiwillig zum Kampf gegen Napoleon beigetreten waren, wurde das Symbol für staatliche Einheit und bürgerliche Machtteilhabe.

      Weiterhin wurde ein anderer gewichtiger Umstand von den Mächtigen übersehen oder geflissentlich ignoriert. Durch die Industrialisierung bildeten sich immer rascher drei wichtige Gruppen heraus, die aus unterschiedlichen Gründen mit der althergebrachten feudalen Ordnung nichts mehr anfangen konnten. Da war einmal das zu immer mehr Einfluss kommende Bürgertum. Dieses setzte sich aus Industriellen, Geschäftsleuten, Händlern, Gelehrten, kurz aus den mit ihren Steuern den Staat tragenden Menschen, in heutiger Terminologie den ›Leistungsträgern‹, zusammen. Das Bürgertum wollte seinem ökonomischen Anteil entsprechend an der Macht beteiligt werden. Auf dem Hambacher Schloss protestierten nicht nur Studenten, sondern Professoren, Juristen, Kaufleute, Journalisten wehrten sich ebenfalls lautstark und in ganz Deutschland vernehmlich gegen Unterdrückung und Fürstenwillkür. Das Bildungsbürgertum nahm Anlauf für eine deutsche Revolution.

      Zum anderen gab es das wachsende Proletariat, welches in den Fabriken der Industriellen unter Einsatz der eigenen Gesundheit den ›Mehrwert‹ des Kapitalismus schuf, sich aber mit gutem Recht als ausgebeutet und politisch an den Rand gedrängt betrachtete. Doch nicht nur diese beiden Gruppen hatten Grund, die bestehende Ordnung abzulehnen. Auch weite Teile der Landwirtschaft und der Landbevölkerung litten unter der zunehmenden industriellen Technisierung, die ihre Arbeitskraft zunehmend überflüssig machte. Traditionelle, jahrhundertelang gepflegte Handwerke verloren nach und nach durch die Effizienz der industriell fertigenden Maschinen an Bedeutung. Bauern, Handwerker, Kleingewerbetreibende und ihre Familien hatten häufig nur die Wahl, zu verhungern oder nach Amerika auszuwandern. Millionen Menschen verließen die Länder des Deutschen Bundes. In Schlesien revoltierten 1844 die hungernden Weber, bis sie vom preußischen Militär gewaltsam ›befriedet‹ wurden. Anders als das Bürgertum hatten Proletariat und Bauern aber noch keine Wege gefunden, sich als ›Klassen‹ zu begreifen und politisch zu artikulieren. Hinzu kam, dass auf dem Land häufiger als in den Städten die ›alten Sitten‹, feudale Zwänge und religiös wie monarchistisch motivierte Untertanenmentalität herrschten. Viele Bauern, vor allem östlich der Elbe, waren trotz der preußischen Bauernbefreiung des Jahres 1807, in deren Rahmen die ›Erbuntertänigkeit‹ abgeschafft worden war, noch immer faktisch Leibeigene des jeweiligen örtlichen Landadligen. Erst 1863 begann mit dem ›Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‹ unter Ferdinand Lassalle die Bildung politischer Organisationen zur Vertretung der Interessen der ›unteren Schichten‹.

      Diese beschriebene Mischung aus Ignoranz der Herrschenden, wirtschaftlicher Not, althergebrachten Strukturen und politischer Unzufriedenheit führte schließlich in Preußen und den anderen deutschen Staaten im Jahr 1848 zur Revolution, in der ein einheitlicher deutscher Verfassungsstaat unter Einschluss Österreichs geschaffen werden sollte. Ausgangspunkt der Revolution war das Großherzogtum Baden. Die Badener nahmen die Impulse der Pariser Februarrevolution auf, die den Sturz des französischen Königs Louis-Philippe zur Folge hatte. Von Baden verbreitete sich der Aufstand schnell über ganz Deutschland.

      Der ›Deutsche Bund‹ überstand jedoch die Revolution von 1848/49. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte die ihm von der Frankfurter Nationalverfassung angebotene Kaiserkrone 1849 verächtlich ab. Er wollte nicht Herrscher über einen demokratisch legitimierten gesamtdeutschen Verfassungsstaat sein, sondern bevorzugte es, weiter in der Illusion einer göttlich geschaffenen Feudalordnung zu regieren. Am Ende scheiterte die Revolution, sie wurde zusammengeschossen, viele der führenden Revolutionäre kamen in Gefängnisse oder flohen in die Fremde, vornehmlich in die Vereinigten Staaten. Doch zwei wichtige Erbschaften hinterließ die Revolution: die Bildung von Parteien und ein liberal-fortschrittliches Bürgertum, das sich den Traum von Einheit und Verfassung nicht nehmen lassen wollte.

      Dreizehn Jahre nach der Niederschlagung der Revolution regiert Wilhelm I. Preußen. Wilhelm war 1858 seinem bis zur Regierungsunfähigkeit erkrankten älteren Bruder Friedrich Wilhelm IV. zunächst als Regent und nach dem Tod des Bruders 1861 als König von Preußen nachgefolgt. Wilhelm gilt als etwas fortschrittlicher als sein Bruder, wenngleich er sich bei der Niederschlagung der Revolution den wenig einnehmenden Spitznamen ›Kartätschenprinz‹ eingehandelt hat. Unter Führung des Prinzen Wilhelm wurden 1849 die letzten Reste der Revolution in Baden und in der Pfalz niedergeschlagen. Dennoch sind die ersten Jahre der Regentschaft Wilhelms I. von 1858 bis 1862 unter dem Begriff der ›Neuen Ära‹ als verhältnismäßig liberal zu bezeichnen. Daran allerdings, dass allen Parlamenten zum Trotz letztlich nur der vor Gott verantwortliche Monarch das Sagen hat, lässt Wilhelm keinen Zweifel. Der König denkt traditionalistisch und legalistisch, jedoch nicht reaktionär. Die Jahre der Unterdrückung während der Regierungszeit seines Bruders will er aufrichtig überwinden. Hierarchien, Ordnungen und ein korrektes Verhalten innerhalb monarchischer Rangfolgen sind ihm dennoch überaus wichtig. So reagiert er sehr emotional und unbedacht, wenn er sich in seiner königlichen Würde missachtet fühlt, und achtet umgekehrt penibel darauf, selbst korrekt aufzutreten. Die intellektuellen Interessen des gläubigen Protestanten sind zwar begrenzt, er besitzt aber gesunden Menschenverstand und politisches Verständnis. Seine Frau Augusta, eine Tochter des aufgeklärten Goethe-Förderers Karl August Großherzog von Sachsen-Weimar, ist eine kluge Beobachterin und Ratgeberin, die ihrem Gatten offen auch ihre Meinung zu politischen Fragen mitteilt. Verheiratet ist der König jedoch vor allem mit seiner Armee, um die seine Gedanken meist kreisen.

      Wilhelm I. regiert einen großen, allerdings territorial zersplitterten Flächenstaat mit erheblichen regionalen Unterschieden. Während der Westen rund um das heutige Ruhrgebiet und einige andere Industriegebiete in Schlesien durch die Kohlegewinnung und Stahlverarbeitung eine rasante Entwicklung erleben, sind andere Landschaften Preußens noch rein agrarisch geprägt. Von 1816 bis 1861 hat sich die Bevölkerungszahl Preußens von ca. zehn Millionen auf ca. 19 Millionen Menschen fast verdoppelt.

      Seit 1848 gibt es in Preußen eine oktroyierte Verfassung, die dem Bürgertum neben einigen Grundrechten, zum Beispiel eine relative Pressefreiheit, das Zugeständnis eines im Dreiklassenwahlrecht zu bildenden Abgeordnetenhauses macht. Gemeinsam mit dem aus ernannten Mitgliedern bestehenden ›Preußischen


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