Inseldämmerung. Bent Ohle
sentimentale Scheiße einfach vergessen, so wie bisher? Es waren Jahre vergangen, in denen er nicht ein einziges Mal an ihn gedacht hatte, also warum jetzt damit anfangen? Genau, warum? Es gab keinen verdammten Grund.
Er wollte das ein für alle Mal klarmachen, ging ins Bad, schlug in den Spiegel, dass die Splitter ins Waschbecken regneten, nahm sich eine Scherbe und schnitt sich eine knapp zehn Zentimeter lange Wunde in den Unterarm. Er sah zu, wie das Blut herausquoll und durch seine Haare am Arm herabrann. Er legte seine Hand auf die Schnittwunde, spürte das warme Blut und schwor sich, dass die Narbe ihn immer daran erinnern sollte, niemals wieder an seinen Sohn zu denken, niemals wieder sentimental zu werden, niemals wieder weich und schwach zu sein. Niemals. Ab jetzt, ab heute, nie wieder.
Notdürftig band er sich ein zerrissenes T-Shirt darum, ließ alles so liegen, wie es war, und verließ die Wohnung.
Unten trat er aus der Haustür auf den Innenhof. Der Wind erfasste ihn in einem Wirbel. Er war sich nicht sicher, ob sein neues Aussehen ausreichte, um seine Aufpasser zu täuschen. Also setzte er noch eine Wollmütze auf. Sollten sie ihm noch folgen, würde er sie irgendwo in der City abhängen. Auf der gegenüberliegenden Seite ging die Tür auf, und eine Frau kam ihm entgegen. Sie hielt ihren Kopf gesenkt. Nicht wegen des Wetters, sondern weil sie verbergen wollte, was sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Brockhaus wusste sofort, dass es die Frau aus der Wohnung unter ihm war, die gekommen war, um zu ihrem Mann oder Freund oder wer immer der Typ auch gewesen sein mochte zurückzukehren. In Bruchteilen von Sekunden wägte er ab, ob er sie auch töten sollte, ließ sie dann aber passieren und ging aus dem Gebäude hinaus auf die Straße. Scheinbar flüchtig ließ er seinen Blick über die hier parkenden Autos gleiten und entdeckte seine Bewacher sofort. Wenn diese Idioten nicht immer dieselben Wagentypen fahren würden, hätten sie mehr Erfolg, dachte er, schlug seinen Kragen hoch und lenkte seinen Schritt nach links.
Es dauerte sieben Sekunden, bis er hörte, wie der Motor ansprang.
Amrum, Nebel, Strunwai, 12:57 Uhr
Sie fuhren um die enge Kurve, vorbei an der Post, bis sich links ein Feld auftat, hinter dem man den Leuchtturm über dem Waldsaum erkennen konnte. Inzwischen regnete es. Es waren ganz feine Tropfen, die aussahen wie ein Schwarm von Insekten, die einem Schleier gleich vom Wind mitgetragen wurden. In der nächsten Kurve, hinter der es weiter bis nach Norddorf ging, fuhren sie bei der Bushaltestelle geradeaus auf den Strandweg, der direkt auf den Nebeler Strand zulief.
»Es muss eins der letzten Häuser vor dem Strand sein«, sagte Martin und beugte sich suchend über das Lenkrad, um an den zurückversetzt stehenden Häusern eine Hausnummer oder einen Namen erkennen zu können.
Vor einer kleinen Kreuzung, hinter der das Waldstück bis zum Strand begann, hielt Martin an und deutete nach rechts.
»Das muss es sein.«
»Hier? Sieht krass groß aus«, sagte Daniela.
»Steigst du aus und schaust mal nach, Joshua?«, bat Alexandra.
»Wie soll das heißen?«, fragte er genervt.
»›Dünenglück‹«, antwortete Martin.
»Bescheuerter Name.«
»Du sollst keine Kritiken abgeben, sondern gucken, ob wir richtig sind.«
»Lustig«, sagte Joshua, schmiss die Tür zu und ging mit gesenktem Kopf auf das großflächige Grundstück. Das rot verklinkerte Haus war von Rasen umgeben und nach hinten und zur Seite von Tannen blickdicht eingerahmt. Vorn neben der Auffahrt begrenzten mannshohe Büsche das Grundstück.
Joshua ging ein Stück über die steingeflieste Auffahrt und stoppte abrupt, als er das Schild entdeckte. Er winkte sie zu sich und verschwand durch die Eingangstür, in der der Vermieter den Schlüssel für sie stecken gelassen hatte, im Haus.
Die anderen stiegen aus dem Wagen, nachdem Martin unter das zum Haus hin offene Carport gefahren war. Er öffnete den Kofferraum und reichte Daniela zwei Taschen, während Alexandra mit Piet auf dem Arm vorging.
»Joshi muss aber auch was tragen«, beschwerte sich Daniela.
»Ja, sag ihm das«, erwiderte Martin und kramte weiter im Kofferraum.
Das Erste, was Martin auffiel, als er das Wohnzimmer betrat, war der Weihnachtsbaum, den der Vermieter für sie aufgestellt hatte.
»Nun seht euch das an. Ist doch klasse, oder?«
»Der ist ja gar nicht geschmückt«, meinte Daniela.
»Nein, das werden wir machen. Genauer gesagt, ihr zwei.« Alexandra blickte ihre Kinder mit großen, auffordernden Augen an.
»Echt jetzt?«
»Ja, ihr könnt auch mal etwas beitragen.«
»Und ihr?«, wollte Joshua wissen.
»Ich füttere Piet, und Papa ist den ganzen Weg im Sturm gefahren, der kann sich jetzt mal ausruhen.«
»Wie, Papa kann hier abhängen, während wir schuften müssen?«
»Joshua, du machst das jetzt, und ich will nichts weiter von dir hören«, sagte Alexandra, woraufhin Joshua seinem Vater einen verächtlichen Blick zuwarf.
Martin lehnte sich mit beiden Händen auf eine Stuhllehne und setzte ein zufriedenes Lächeln auf. »Weihnachten«, sagte er und seufzte, »das Fest der Liebe und des Friedens.«
Hamburg, Stephansplatz, Spielbank Esplanade, 17:51 Uhr
Till saß konzentriert am Steuer und lenkte den Transporter am Casino vorbei zur Rückseite des Gebäudes. Simon kniff auf dem Beifahrersitz die Augen zusammen, um den Hintereingang erkennen zu können. Dort parkte bereits ein weiterer Geldtransporter ihrer Firma.
»Sie sind schon da«, sagte er tonlos.
Till fuhr ein Stück weiter, setzte den Warnblinker und hielt in zweiter Reihe am Straßenrand. Er stellte den Rückspiegel so ein, dass er den anderen Wagen im Auge behalten konnte. Simon sah auf die Uhr.
»Sie sind früh dran. Vielleicht sollten wir schon losfahren.«
»Wir warten, bis sie zu sehen sind«, entgegnete Till entschieden.
Simon erwiderte nichts und pustete nervös die Luft aus.
»Was ist?«, fragte Till.
»Nichts, was soll sein?«
Till musterte seinen Partner von oben bis unten. »Kriegst du das hin?«
»Sicher. Was soll die Fragerei?«
Till löste seinen Blick von ihm und starrte wieder in den Rückspiegel. »Gleich muss das Timing stimmen, sonst sind wir am Arsch, kapiert?«
»Kümmer dich um deinen Scheiß, ich mache meinen, klar?«
Till war ein wenig überrascht von so einem aggressiven Konter, aber er musste zugeben, dass ihm das gefiel. Das zeugte von Selbstvertrauen und von gehörig viel Wut im Bauch. Er grinste. »Guter Junge.«
Simon stieß ihn an und deutete auf den Rückspiegel. Bernd verließ in diesem Moment mit zwei Koffern das Gebäude und ging zur Rückseite des Transporters. Till sah auf seine Armbanduhr.
»Okay, ab jetzt neunzehn Minuten.«
Er startete den Motor, wendete und fuhr in Richtung Süden davon.
Inzwischen war der Sturm so heftig geworden, dass der öffentliche Verkehr größtenteils zum Erliegen gekommen war. Bis auf einige Taxis waren kaum noch Pkw unterwegs. Kurz bevor sie die Elbbrücken erreichten, erkannten sie eine Schikane der Polizei.
»Fuck, was soll das?«
»Vielleicht sperren sie die Brücke.«
Ein Verkehrspolizist winkte die beiden an sich vorbei. Till öffnete sein Fenster.
»Was ist los?«
»Gesperrt für leere Lkw und Anhänger!«,