Inseldämmerung. Bent Ohle
»Fahr doch schneller«, beschwerte sich Joshua und zappelte ungeduldig mit seinem Bein.
»Ich drücke das Pedal bereits voll durch«, entgegnete Martin.
Als sie endlich den Hafen erreichten und der Wind nochmals an Stärke gewann, sie den Deich überquerten und das Wasser sehen konnten, lenkte Martin den Wagen in die letzte geöffnete Kassenspur. Er ließ das Fenster runter, und die Luft drückte mit aller Macht herein und ließ ein paar Tankbons auffliegen.
»Glück gehabt!«, schrie der Mann im Kassiererhäuschen sie an. »Das ist die letzte Fähre für heute, dann is Schicht im Schacht!«
Martin nickte dankbar und reichte ihm seine EC-Karte.
»PIN-Nummer bidde!«, schrie der Mann und reichte ihm das Display zurück. »Spur 15! Gute Fahrt!«
»Danke!«, schrie Martin zurück und schloss das Fenster wieder. Sie waren die Vorletzten in Spur 15, nur noch ein einziger Wagen hielt kurze Zeit später hinter ihnen.
Weiter vorn arbeitete sich die Fähre durch das aufgewühlte Wasser auf den Anleger zu. In unregelmäßigen Abständen ergossen sich von Gischt gekrönte Wellen über die Plexiglasabsperrungen. Und obwohl es noch nicht regnete, landeten dicke Tropfen auf der Windschutzscheibe des Passats und zerstoben augenblicklich in alle Richtungen.
»Müssen wir da etwa raus?«, fragte Dani.
»Wir können auch im Wagen bleiben, aber im Restaurant ist es warm, und wir können was essen«, sagte Martin.
»Ich bleib im Wagen«, murmelte Joshua und konzentrierte sich auf sein Handydisplay.
»Wir gehen alle nach oben«, entschied Alexandra, »ohne Ausnahme.«
Sie ergatterten einen freien Tisch, zwar nicht am Fenster, aber hinter der Glasscheibe zwischen Küche und Restaurant, sodass sie zu beiden Seiten hinaus auf die tosende Nordsee blicken konnten.
Das Schiff schaukelte bereits am Anleger, und je weiter sie hinausfuhren, desto schlimmer wurde es. Jedes Mal, wenn die Kellner eine Bestellung brachten, hatten sie Angst, dass alles vom Tablett rutschen würde. Der Wind blies stetig von Backbord auf die Fähre ein und legte sie leicht schief, wie ein Segelschiff. Immer wieder klatschte Wasser gegen die Scheiben und hinterließ einen milchigen Film.
»Hoffentlich kotzt Piet nicht«, meinte Joshua mit einem zweifelnden Blick auf seinen kleinen Bruder.
»Hoffentlich kotzt du nicht«, gab Daniela zurück.
»Kinder, könntet ihr über was anderes reden, während ich versuche, meinen Kaffee zu trinken?«, bat Martin.
»Könntest du uns dann nicht ›Kinder‹ nennen?« Joshua blickte ihm in die Augen, ohne zu blinzeln.
»Na klar, wie darf ich dich denn ansprechen? Jugendlicher oder Erwachsener oder Homo Sapiens, wie hättest du’s gern?«
»Du kapierst gar nichts«, gab Joshua beleidigt zurück und wandte sich ab.
Martin warf seiner Frau einen hilflosen Blick zu. Am Nebentisch fuhr ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge auf, weil seine Mutter ihm verboten hatte, weiter auf seinem Handy zu spielen. Alexandra lächelte.
»Es ist überall dasselbe.«
Amrum, Inselstraße, 11:34 Uhr
Nils war in seinem Dienstwagen in Richtung Hafen unterwegs und passierte gerade die Tankstelle. Rechts tauchte der Leuchtturm über den im Wind wogenden nackten Bäumen und Büschen auf. Gleich würde die letzte Fähre für heute ankommen und wieder zurückfahren, danach waren sie vollkommen abgeschnitten vom Rest der Welt. Ein Gefühl, das Nils eigentlich mochte. Es war das Elementare einer Insel, die Abgeschiedenheit von allem anderen, völlig auf sich allein gestellt zu sein. Und jetzt, über die Weihnachtsfeiertage, fand er die Vorstellung besonders schön. Sie würden es sich zu dritt im Haus gemütlich machen, der Ofen würde bullern und draußen der Regen gegen die Scheiben trommeln. Sie würden sich beschenken, gut essen und trinken und einfach zusammen sein. Etwas Besseres konnte er sich nicht vorstellen.
Im Hafen angekommen, parkte er geschützt hinter dem Gebäude und rannte mit gesenktem Kopf die Stufen hinauf.
»Moin, Nils«, grüßte ihn die gelangweilt dreinschauende Mitarbeiterin Ines hinter dem Verkaufsschalter. Hier drin war natürlich nichts los.
»Moin. Komm, pack deine Sachen und geh nach Hause. Der Hafen wird doch gleich dichtgemacht.
»Ich bleibe, bis alle von Bord sind. Man weiß ja nie.«
Die Schiebetür hinter Nils öffnete sich, und Rüdiger, ein weiterer Mitarbeiter der Reederei, trat ein. »Moin, Nils. Gleich haben wir Ruhe für ’n paar Tage.«
»Wie hoch ist der Wasserstand?«
»Jetzt sind’s eins zwanzig. Heute Nachmittag kommen wir auf über zwei Meter, dann ist hier Land unter.«
Nils nickte und blickte aus dem Fenster hinaus auf die graubraune Nordsee.
»Was macht ihr über die Feiertage? Ist Anna da?«, fragte Rüdiger.
»Ja, wir werden ein ganz ruhiges Fest haben. Keine Gäste, nur wir drei und der Sturm.«
»Klingt nett. Mein Sohn kommt dieses Jahr nicht nach Hause. Meine Frau heult sich seit einer Woche die Augen aus. Aber der Junge hat einfach keine Lust, mit seinen alten Eltern zu feiern. Jetzt sind die Kumpels wichtiger und die Mädchen.« Er schaute traurig auf seine nassen Stiefelspitzen.
»Dann könnt ihr doch mal schön zu zweit, so ganz romantisch feiern.« Nils zwinkerte ihm zu.
»Jaa. Muss man sich erst mal dran gewöhnen, ne?«
»Ach, wenn er erst ’ne Frau und Kinder hat, kommt er wieder zu euch, keine Angst.«
Rüdiger ließ die Kinnlade fallen. »Dann bin ich Opa, oder was?«
»Jou.«
»Schietkram.« Er fuhr sich mit der Hand über seinen grauen Schnäuzer.
Nils lachte und legte einen Arm um Rüdigers Schultern. »Ich versteh dich ja. Kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Anna nicht mehr zu uns kommt. Vielleicht sperr ich sie einfach ein und nehm sie lebenslang als Geisel.«
»Schöner Gedanke für einen Polizisten«, bemerkte Ines, grinste aber.
Hamburg-Wilhelmsburg, Zentrale von Optisecur, 11:48 Uhr
Till ging mit seinem geschulterten Rucksack am Fenster seines Chefs vorbei, als dieser plötzlich an die Scheibe klopfte und ihn zu sich hereinwinkte. Grummelnd stieß Till die Eingangstür auf und ging direkt in dessen Büro.
»Morgen, was gibt’s?«, fragte er mit der Türklinke in der Hand.
»Komm kurz rein«, sagte Zinkowski.
Till schwante nichts Gutes, und er schloss die Tür hinter sich.
»Pass auf … äh … da Bernd ja nun einen sehr kurzfristigen Partnerwechsel mitmachen musste, hat er mich gebeten, dass er mit Günther trotzdem weiter deine Route fahren kann. Also tauscht ihr einfach, und alles geht seinen gewohnten Gang, okay?«
Till bewegte sich nicht, sagte nichts, sodass Zinkowski verwundert aufschaute.
»Was ist?«
»Das geht nicht«, stellte Till trocken fest.
»Ich finde das nur fair und hab’s ihm schon zugesagt«, konterte sein Chef, aber man sah, dass er sich nicht ganz wohl dabei fühlte.
»Du kannst ihm nicht einfach meine Route geben«, protestierte Till.
»Nun ist es leider schon geschehen. Und wie gesagt, dafür hast du deinen Wunschpartner bekommen. Eine Hand wäscht die andere.«
»Nein.« Till machte einen Schritt auf ihn zu. Gleichzeitig überlegte er, wie heftig er sich gegen diese Entscheidung auflehnen durfte,